Mo, 04.04.2011

Schüler der ISH fahren in das Literaturarchiv nach Marbach

Ein paar Stunden Deutsch-LK

Dies bekam eine Schülergruppe der Jahrgänge 11 bis 13 von der Volontärin Magdalena Hack im Lite-raturarchiv der Moderne in Marbach, nahe Stuttgart, geboten, wo sie, begleitet von den Lehrern Frau Schwindt und Herrn Dr. Müller, den Studientag am 5. April verbrachten.

Das sogenannte LiMo bietet auf insgesamt zwanzigtausend Quadratmeter Fläche Platz für die Nachlässe der Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, zu denen all jene zählen, die innerhalb dieses Zeitraums von Kritikern anerkannte Literatur verfasst haben. An Nachlässen finden sich dort neben zwölf Millionen Blatt Papier – darunter natürlich viele Manuskripte – alle Dinge, die irgendetwas mit dem Schreiben der Autoren zu tun hatten: Texte mit Unterstreichungen und Anmerkungen, Leserbriefe, Füllfederhalter, Briefe der Autoren an Familie und Freunden sowie deren Antworten, Fotos, Sammlungen der Schriftsteller und einige eher skurrile Gegenstände wie z. B. ein mit spontanen Einfällen beschriebener Fensterrahmen. Neben dem Literaturarchiv in Weimar, welches einen klassischen Schwerpunkt besitze, sei Marbach mit seinem Augenmerk auf Philosophie und die Moderne ein Prestigeort für „die Sammlung von Autoren“, so erklärte Frau Hack es den Schülern.

In einem Workshop lasen diese unter ihrer Anleitung eine Kopie des Manuskriptes von Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“, die von einem „Mann vom Lande“, der „ um Eintritt in das Gesetz“ bittet, was ihm vom „Türhüter“ verwehrt wird, und dem Scheitern des Mannes handelt. Ganz anders als im gewöhnlichen Deutschunterricht bot das direkte Lesen des Manuskriptes den Schülern einen besonders tiefen Einblick in den Schaffensprozess des Autors: Sie hatten durch das Betrachten der Streichungen nicht nur die Möglichkeit, die Schreibintention des Autors klarer nachzuvollziehen, sondern konnten, so legte es Frau Hack dar, an „der Handschrift des Schriftstellers die Art des Schreibens“ erkennen.

Zum Beispiel sahen sie, dass Kafka ursprünglich ein physisch gewaltsames Moment des Türhüters, den er vor der Korrektur auch mit dem Synonym „Wächter“ bezeichnete, angelegt hatte, welches er aber schon zu Beginn wieder verwarf. So lag es in der Interpretation näher, das Scheitern des Mannes auf ihn selbst statt auf die Übermacht des Türhüters zu beziehen.

Was man vielleicht zunächst als Wortklauberei bezeichnen würde, nahm viel Raum im Gespräch zwischen Frau Hack und den Schülern ein: Sie diskutierten über den genauen Unterschied zwischen „Tür“ und „Tor“, ob das „vor“ bei „Vor dem Gesetz“ denn räumlich oder zeitlich verstehen zu sei und inwiefern der Mann vom Lande am Ende der Geschichte die richtige Frage gestellt habe oder nicht. Zusammenfassend sagte die Workshop-Leiterin zu all den Fragen, von denen nur wenige abschließend beantwortet werden konnten, dass Kafkas Angaben zu den Worten zwar eindeutig, ihr Inhalt jedoch doppelbödig sei, weil der Autor die Wörter immer wieder neu auslote. Dies führe dazu, dass es trotz Lesen des Manuskripts letztlich nur eine Frage der besseren Argumentation sei und an vielen Stellen eben mindestens zwei Interpretationen gleichwertig nebeneinander stehen könnten.

Daneben erzählte Frau Hack noch viel über das Leben Kafkas, dessen Beziehung zu Frauen und seinem Freund Max Brod, die Absurdität seiner zwei Letzten Willen sowie die Entstehung des diese Parabel beinhaltenden Romans „Der Proceß“, den Kafka bis zu seinem Tod unvollendet ließ und der dann postum von Max Brod veröffentlicht wurde.

Am Ende des Workshops führte die Volontärin die Schüler noch durch die Dauerausstellung des Literaturarchivs, wo sie sich einige der zwölf Millionen Seiten Papier ansehen durften, unter anderem auch das Faksimile des Romans, über den sie so viel gesprochen hatten. Dort endete das Angebot, Frau Hack verließ sie und ging, wobei sie Tür und Tor nach draußen offenließ, sodass die Schülergruppe nach einem etwa sechsstündigen Ausflug wieder zurück an den Hansenberg kehren konnte.