Mo, 04.05.2009

Posen im Mai

Eine Studienreise im Rahmen von 13.3 und im Kontext des Nono-Projekts

Quizfrage: Was machen Zugreisende, wenn ihnen zu spät ein Licht aufgeht, dass sie hätten aussteigen müssen, dies jedoch versäumten, weil ihnen ein Bahnhof nicht als Bahnhof vorkam? In Polen ist die Antwort sonnenklar: Natürlich die Notbremse ziehen! In Deutschland würden das wohl die wenigsten, nur die Verwegensten wagen, doch nach Auskunft der Deutschen Bahn ist Notbremse-Ziehen auch hierzulande unter den gegebenen Umständen nicht verboten. (Vielleicht eine Folge der langen Welle von ’68?)

Warum interessiert uns diese Frage? Nun, am Morgen des 5. Mais widerfuhr siebzehn Schülern und Schülerinnen der diesjährigen Hansenberg-Abiturientia samt zwei Begleitpersonen genau dieses Malheur. Und statt in Posen/Poznan, wie eigentlich vorgesehen, aus dem Zug zu steigen, fuhren sie ungewollt weiter nach Konin, einem Ort in der Mitte von Nirgendwo, wo man nach spannendem Austausch mit polnischem Bahnhofspersonal die Rückreise ins etwa 80 km entfernte Posen antreten konnte. Wer war schuld? Ein (deutscher) Herr Müller, der – so die polnische Seite – uns Reisende dienstlich auf den Bahnhof als Bahnhof hätte aufmerksam machen müssen (statt pflichtvergessen vor sich hinzuschlummern); „natürlich die Polen“, erwiderten die deutschen Zugbeamten, denn eines sei sicher: Polen hätten in Polen die Oberaufsicht in deutsch-polnischen Zügen, und Deutsche in Deutschland. Aha.

Mitten in der EU, lässt die EU von ferne grüßen.

Doch das war das einzige Erlebnis, das uns in diesen fünfeinhalb Tagen etwas spanisch vorkam, wiewohl die meisten auch leicht amüsierte. (Frau Fietz eher nicht, weil sie sich mit der einen Kammer ihres deutsch-polnischen Herzens immer für die Ehre Polens mitverantwortlich fühlte.)

Nachdem uns Marcin, unser junger, sympathischer polnischer Reiseführer, zum Hostel gebracht hatte, begaben wir uns schließlich mit geringer Verspätung auf eine geführte Tour durch die Stadt und waren entzückt von der vorbildlichen Restaurierung der Altstadt – typisch, wie man hört, für den liebevollen Umgang der Polen mit ihren kriegsversehrten Städten. Der Marktplatz mit dem Rathaus im toskanischen Renaissance-Stil hatte es uns am meisten angetan und war später ein beliebter Ausgangspunkt für hungrige Erkundungen in der örtlichen Gaststubenkultur.

Am nächsten Morgen trafen wir mit dem Direktor des „Westinstituts“ zusammen, einem polnischen Soziologen, der nach 1990 ein paar Jahre forschend in Berlin verbrachte und sich heute mit der Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen befasst. Im Gespräch mit ihm wurde deutlich, dass das Verhältnis zwischen den beiden Staaten trotz Frau Steinbach und den Vertriebenenverbänden problemlos wie nie zuvor ist. Nur das in ihren Augen etwas zu innige deutsch-russische Verhältnis macht der polnischen Seite Sorgen; man fühlt sich ein bisschen übergangen, verweist auch auf Georgien, das nur dank amerikanischer Hilfe sich dem Zugriff der Russen entziehen könne. Die deutsche Seite nimmt solche Befürchtungen zur Kenntnis, ohne sie ganz teilen zu wollen.

Weiter ging’s zum Museum der Posener „Bamberger“, einer deutschen Minderheit, die ursprünglich aus Franken ins Land gekommen war. Der Museumsführer, ein älterer Herr und selbst „Bamberger“, war sichtlich von der Aufgabe ergriffen, einer Gruppe junger Deutscher das landsmännische Erbe möglichst umfassend vorzustellen, überschätzte allerdings unsere Neugier auf all die unzähligen Einzelheiten und Gegenstände alt-bambergischer Lebensweise ein wenig.

Abends erlebten wir einen emotionalen Gipfelpunkt des Programms: In diesem schönen Monat Mai feiert die Posener Universität ihren 90. Gründungstag als polnische Institution (bis 1918 gehörte Posen zu Preußen, das jedes Lebenszeichen einer polnischer Kultur rücksichtslos unterdrückte). Aus diesem Anlass veranstaltete die Posener Philharmonie ein Jubiläumskonzert, das im Finale von Beethovens 9. unter Mitwirkung sämtlicher akademischer Chöre der Stadt seinen glanzvollen Höhepunkt fand. „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“ auf Deutsch von Polen gesungen – ein noch vor wenigen Jahren ganz undenkbarer Gedanke, und hier war er wahr geworden!

Am nächsten Vormittag holte uns die Geschichte wieder ein. In einem Vorort Posens liegt das „Museum des Martyriums“, das von dem Versuch der Nazis zeugt, die polnische Elite nach dem Überfall 1939 auszulöschen. Das Museum besteht aus den Überresten eines der ersten Konzentrationslager auf polnischem Boden und erinnert erschütternd an die berüchtigte Tradition deutschen Polenhasses und die grausamen Folgen nationalsozialistischen „Herrenmenschentums“, wie es sich bis 1945 in Osteuropa austobte.

Am Freitag, dem vorletzten Tag unserer Reise, besuchten wir in der etwa 50 km außerhalb gelegenen Kleinstadt Wrzesnia eine Oberschule, in der junge Polen auf das Studium der Tiermedizin vorbereitet werden. Die Abiturienten waren leider nicht zu sprechen, denn unser Besuch platzte mitten in die Zeit der schriftlichen Prüfungen. Doch trafen wir mit etwas jüngeren Schülern und Schülerinnen zusammen, die alle schon ein paar Jahre Deutschunterricht hinter sich hatten. Wir wollten uns über gegenseitige Vorurteile austauschen, doch der Versuch wollte nicht recht gelingen. Zum einen waren die vorgebrachten Vorurteile so erkennbar und bemüht stereotyp, dass sie von vornherein nicht ernst gemeint sein konnten; zum anderen war die sprachliche Verständigung ein Problem: Wären Ian und Sebastian nicht gewesen, die zwischen den Kleingruppen hin- und hersausten, um zu dolmetschen – das kleine Projekt wäre kläglich gescheitert. Denn die Deutschen konnten kein Polnisch, die polnischen Jugendlichen kein Englisch, und ihr Deutsch zu gebrauchen trauten sie sich nicht recht. Hernach gab’s ein liebevoll vorbereitetes Mittagessen nicht in der Mensa, sondern in einem eigens dafür umfunktionierten Konferenzraum, in der ein zaghafter Austausch über Teller und Schüsseln hinweg aufglimmte, bald aber wieder erstarb.

Es blieb das Empfinden, dass unsere Gastgeber sich alle erdenkliche Mühe gegeben hatten, uns herzlich zu empfangen, dass sich jedoch die Sprachbarriere, vielleicht auch der leichte Altersunterschied als nur schwer überwindlich erwiesen.

Der ausgezeichnet Deutsch sprechende Sprachlehrer der polnischen Jugendlichen erlaubte uns einen Einblick in die Schwierigkeiten des polnischen Lehrerdaseins: Ohne Zweitjob am Nachmittag und in den Ferien kommt er nicht über die Runden, und das ist so üblich.

Den letzten Tag unseres Aufenthalts schlossen wir mit dem Besuch des Nationalmuseums ab, das an den Posener Aufstand 1956 erinnerte. Dieser Aufstand – ähnlich wie 1953 in Ostberlin und 1956 in Ungarn – war der vergebliche Versuch, die sowjetische Herrschaft abzuschütteln. Wie in den beiden anderen Fällen erstickten russische Panzer jede Freiheitsregung, den überlebenden „Rädelsführern“ wurde der Schauprozess gemacht. Immerhin war es polnischen Patrioten schon 1980 gelungen, der Kommunistischen Partei ein Denkmal mitten in Posen abzutrotzen, das an den gescheiterten Aufstand und seine Opfer erinnert. Im Ostberlin des Jahres 1980 ein vergleichbares Monument für den 17. Juni 1953 – unvorstellbar!

Was bleibt von der Reise im Gefolge des Nono-Projekts? Viele zuversichtlich stimmende Eindrücke vom heutigen Polen, das seinen Platz in „Westmitteleuropa“ einnehmen will, eine Reihe bedrückender Erinnerungen an die polnisch-deutsche Geschichte, die große Gastfreundschaft, die wir genießen durften, viel Spaß jenseits des Programms (dass auf Tischen getanzt wird, kommt ja nicht alle Tage vor), unser Dank an die unermüdlichen „Dolmetscher“ Isabelle Fietz, Ian Gierczak und Sebastian Sztwiertnia, ohne die wir „aufgeschmissen“ gewesen wären. Vor allem aber Dank an Frau Fietz, die die Reise erst möglich gemacht hat. Dank an unseren umsichtigen Reisebegleiter Marcin Ksiazkiewicz vom Kultusministerium der Wojewodschaft Großpolen und auch an Frau Dr. Paulina Jedrzejczyk von der Fachhochschule Wiesbaden, die uns vor der Fahrt einen humorvollen, nichts beschönigenden, aber verständnisvollen, von keinen Scheuklappen getrübten Einblick in die Tiefen der polnischen Seele erlaubte.