Di, 01.04.2014

Packendes Gespräch mit der Zeitzeugin der NS-Zeit, Lilo Günzler: „Kindheit in Frankfurt am Main von 1933–45“

Erinnern für die Zukunft – die Zeitzeugin Lilo Günzler erzählt ihre Geschichte. Erlebte NS-Verfolgung am Hansenberg.

„Und Du kommst mit!“, sagte die Mutter zu der damals zwölfjährigen Lilo Günzler, als sie und der Halbbruder des Mädchens im Februar 1945 mit dem letzen Transport vom Ostbahnhof in Frankfurt/M. nach Theresienstadt deportiert werden sollten.

Noch lange Zeit nach der NS-Schreckensherrschaft trug Lilo Günzler ihrer Mutter nach, dass diese sie zwang, den Schmerz und die Erniedrigung bei der voraussehbaren Trennung zu ertragen. Erst viel später verstand die heute bereits betagte Frau den Entschluss ihrer Mutter, denn sie sollte beauftragt sein, die Geschehnisse weitererzählen, und das tat Lilo Günzler auch nach langer Zeit des Schweigens.

Lilo Günzler, geborene Wessler, kam am 11. Januar 1933, also kurz vor der Machtergreifung Hitlers, als Kind einer jüdischen Mutter und eines sogenannten „arischen“ Vaters in Frankfurt am Main zur Welt. Später wurden sie, ihr Bruder und ihre Mutter katholisch getauft: ein hilfloser Versuch, dem drohenden Antisemitismus in Deutschland zu entkommen. Die ersten 5 Jahre ihres Lebens hielt sie in guter Erinnerung. Doch der kurzen Zeit der Sorglosigkeit und Unbekümmertheit setzte ein furchtbares Ereignis ein jähes Ende. Ein Feuerinferno, entfacht durch die Nationalsozialisten, wütete am Tag nach der Reichspogromnacht am 9. Nov. 1938 durch Frankfurt und zerstörte Synagogen, jüdische Geschäfte und Häuser.

„An diesem Tag endete meine Kindheit“, fügte sie leise hinzu, während sie sich verstohlen über die Augen wischte. 1938 wurde ihr Halbbruder, der im Gegensatz zu ihr in der damaligen NS-Sprache ein so genannter „Volljude“ war, zunächst in eine jüdische Sonderklasse eingeschult und später in einem jüdischen Kinderheim interniert. 1939 fand ihre eigene Einschulung statt, als „Geltungsjude oder Mischling ersten Grades“ - die entwürdigende Bezeichnung für Halbjuden. 1943 musste die Familie in ein sog. „Judenhaus“ in Frankfurts Innenstadt umziehen, da eine Nachbarin nicht mehr „mit einer Jüdin unter einem Dach wohnen wollte.“ Die Angst war nun ihr ständiger Begleiter, auch in der Schule. Dort durfte sie „um keinen Preis auffallen.“ „Verhalte dich still und mach alles, was man dir sagt“, sprach ihre Mutter mit Nachdruck am Tag ihrer Einschulung.

Ebenso ruhig wie emotional fuhr Lilo Günzler fort mit der Schilderung der Deportation ihrer Mutter und ihres Bruders 1945. Auch ihr Vater musste sie verlassen, da er zum Volksturm eingezogen wurde. So musste die damals Zwölfjährige mehrere Tage allein in einem Kellerraum fast ohne jegliche Nahrungsmittel verbringen. Schließlich kehrten im Juni 1945 auch ihre Mutter und ihr Bruder unverletzt aus Theresienstadt zurück. Die ganze Familie überlebte, wie durch ein Wunder.

Nach ungefähr einer Stunde beendete Frau Günzler ihre Erzählung, schlicht und leise, genau wie sie diese angefangen hatte. Betroffene Stille, die Stimmung tiefer Erschütterung schwebte im Raum. Es war nahezu sichtbar, wie es in jedem von uns arbeitete, wie alle versuchten, das eben Gehörte zu verdauen. Die Reise durch ihre Erinnerung, auf die uns Lilo Günzler mitnahm, war authentisch, sie ist wirklich, „erlebte Geschichte“ glaubwürdig erzählt! An vielen Stellen der Erzählung mussten alle gegen Tränen kämpfen. Lilo Günzlers Erzählung ist weit mehr als ein Erinnern an die Vergangenheit. Es ist ein Erinnern für uns, für die Zukunft.