Di, 28.04.2009

Mal sehen, wer dem Frosch das Wasser reichen kann…

Unterricht mit Ministerpräsident Roland Koch

Es ist Mittwochvormittag, Punkt 11:00 Uhr. Vom Treppenhaus der Schule her hallt das übliche mit eiligem Fußgetrappel gemischte Stimmenwirrwahr der Schülerschaft, kaum dass es zur Pause gegongt hat. Im rechten Flügel des zweiten Stocks hingegen ist es ungewohnt ruhig. Auch wenn keinerlei hustende Insekten zugegen waren – gehört hätte man solche zweifelsohne.

Lehrer Martin Grosch betritt Raum 2:04, den Klassenraum seiner „Politik und Wirtschafts“-Klasse 12c, dem Anlass entsprechend gekleidet und mit einem Grinsen, was sonst nur Kinder beim Anblick der Geschenke unter dem von Kerzenschein beleuchteten Weihnachtsbaum zeigen. Mindestens so gespannt wie seine Schüler erwartet auch er den Besuch des Ministerpräsidenten Roland Koch. Die Ruhe wehrt – wenig überraschend – nicht lang. Vielmehr wird sie von nervösem Kichern überdeckt (was im Nachhinein vermutlich niemand mehr zugeben wird). Grosch rückt noch schnell den Tisch zurecht, an dem der Ministerpräsident gleich Platz nehmen wird, und platziert ein Wasserglas darauf. „Mal sehen, wer dem RoKo das Wasser reichen kann…“ ruft er auffordernd in die Klasse und schenkt unter Schmunzeln seiner Schüler dem erwarteten Ministerpräsidenten dann selbst das Wasser ein.

Als Roland Koch mit leichter Verspätung den Raum betritt, sitzt die Klasse stramm an ihren Tischen. Doch die Nervosität stellt sich rasch als völlig unbegründet heraus. Freundlich begrüßt Koch die Schüler und lehnt sich entspannt in seinen Stuhl zurück. Über die Finanzkrise solle er sprechen? Gerne, aber nur kurz – denn dass Politiker unter Umständen dazu neigen, sich in ihren eigenen Worten zu verlieren, hat er erkannt. An seinen Impulsvortrag zum Thema „Ursachen, Probleme und Perspektiven der Finanzkrise in Bezug auf das eigene Unternehmen/das Land Hessen sowie Konsequenzen für die Wirtschaftsethik“ soll schließlich noch eine Diskussion mit den Schülern anschließen. Dabei könnten die Schüler ruhig selbstständig das Thema wechseln, schlägt Koch vor. Schließlich sei er da, um ihre Fragen zu beantworten.

Im Moment befänden wir uns in einer außergewöhnlichen Krise, da es zum ersten Mal allen Finanzsystemen auf der Welt schlecht geht. Nur auf Grund dieser Besonderheit dürfe die Politik überhaupt so verstärkt in marktwirtschaftliche Zyklen eingreifen. Wäre die Tragweite derzeitiger Probleme geringer, habe man eine weitgehend gesunde Volkswirtschaft nicht anzutasten. Die Feuerwehr komme bekanntlich auch nicht angefahren, um ein Haus zu beobachten, sondern um zu löschen, wenn es brennt. Koch persönlich halte an dieser Stelle allerdings wenig davon, zusätzlich Geld in Umlauf zu bringen. Die USA, die sich für diese geldpolitische Maßnahme entschieden hat, provoziere damit geradezu zwingend eine enorme Inflation. Wichtig sei es in der Krise, Strukturen zu bewahren, die bei einem erneuten Aufschwung ausbaubar und somit zukunftsfähig wären. So habe man sich in Deutschland für die Unterstützung von Bau-, Auto- und Finanzindustrie entschieden. Besonders die Automobilindustrie beinhalte Technologien, um die Deutschland kämpfen könne. Die Hersteller seien dabei als „Zusammenschraubbetriebe“ nur die Spitze des Eisbergs. Die Branche sei bereits einem großen Wandel unterworfen, welcher sich auch in Zukunft noch weiter vollziehen werde. Sei es, dass wir in einigen Jahren nur noch von Hybridautos oder sogar Autos auf zwei Rädern sprächen. Die Frage, wer die Autos der Zukunft baut, ist noch offen und verspricht ein spannender Wettbewerb zu bleiben. Ließe die Bundesregierung den Industriezweig der Automobilindustrie heute in Deutschland kaputt gehen, werde er während der kommenden Konjunkturphase in asiatischen Ländern wieder aufgebaut und sei dadurch für unsere Wirtschaft großen Teils verloren. So sei in Hinblick auf z. B. die Abwrackprämie nicht von einem Strohfeuer, sondern von einer Brücke zu sprechen, die später ihren Aufleger am anderen Ende des Tales findet. Da bliebe allein die Frage, ob wir einmal am Ziel ankommen oder doch bereits vorher fallen. Aus Angst vor dem Tode solle man jedoch bekanntlich keinen Selbstmord begehen und so stützt Koch die Politik der Bundesregierung in dieser Krisenzeit. Alles sei verantwortbar, solange man aus der Krise auch etwas lerne. Beim G20-Treffen sei dazu ein Grundstein gelegt worden. Das Zauberwort der Zukunft von Wirtschafts- und Finanzsektor heiße Transparenz; auch wenn eine solche ihre Grenzen haben müsse. Zudem sollte der Produktentwickler gezwungen werden, beim Verkauf seines Produkts einen Teil des darauf lastenden Risikos weiterhin mit zu tragen. Man könne den Egoismus des Einzelnen so nutzen, um andere zu schützen. Dafür benötige man die Politik, die die Vorgabe eines sicheren gesetzlichen Rahmens gewährleistet. Hierin liege natürlich auch die Schwierigkeit politischer Arbeit. „An dem Tag, an dem ich Gesetze erlasse, werden alle egoistisch versuchen ihnen weitestgehend zu entgehen“, weiß Koch. „Politische Entscheidungen sind nie naturwissenschaftlich richtig oder falsch. Doch das Problem haben wir, wenn keine getroffen werden.“

Was der Klasse nach solch großen Worten unter den Nägeln brennt, sind vor allem Fragen, die sich mit der Zukunft, welche schließlich die eigene ist, beschäftigen. Wie geht es weiter in der Krise? Was kommt danach? Welche Auswirkungen wird die derzeitige Situation auf die politische Stimmung im Land haben? Immer im Hinterkopf: „Und was konkret bedeutet das für mich?“ Sorgen um die Zukunft des Flughafens zerstreut der Ministerpräsident. Es sei lediglich von einer Verlangsamung der Wachstumsstruktur auszugehen und der Rückgang an Passagieren sei wenig gravierend – nicht annährend vergleichbar mit dem nach „nine eleven“. Ein Schüler erkundigt sich, ob man statt Produzenten zur Übernahme der auf dem eigenen Produkt lastenden Risiken zu zwingen nicht besser auf die Selbstregulierung des freien Marktes – man denke an Adam Smith – setzen, wenn überhaupt Rating-Agenturen etc. stärken sollte. Da hält Koch den Begriff der sozialen Marktwirtschaft hoch. Diese schütze nicht zuletzt die Demokratie vor einer möglicherweise zu starken freien Marktwirtschaft. In Krisenzeiten kippe das Volk zunächst erstere ohne den Ursprung kollektiver Not in der Wirtschaft zu suchen. Den Vorschlag von Steuer- als Teil von Konjunkturpolitik lehnt der Ministerpräsident ab. Er fordert eine strikte Trennung beider Bereiche. Sicher gebe es Reformbedarf bezüglich der Steuern, insbesondere damit es wieder Spaß mache, mehr zu verdienen, und eine Gehaltserhöhung nicht mehr nur mit der Inflationsrate einhergehe. In der derzeitigen Lage sei jedoch nur über sich selbstfinanzierende Reformen zu diskutieren. Politik auf den Schultern kommender Generationen möchte Koch ungern betreiben. In seiner Position sei er Anlaufstelle für alle Ministerien, die besonders in Zeiten von finanzieller Knappheit alle mehr finanzielle Möglichkeiten verlangen. „Da bin ich aber Frosch im Teich“, sagt Koch ernst, doch etwas schelmisch. „Wenn man ’nen Sumpf austrocknen will, soll man nicht den Frosch fragen.“ Generell blickt er optimistisch in die Zukunft. Auf dem globalen Markt rechnet er Europa gute Chancen aus. Es befände sich im Gegensatz zu den USA und Asien weniger „mitten im Hurrikan“. Gleichsam sei für politische Stabilität gesorgt. Sicherlich sei auch mit Ärger zu rechnen. Arbeitslosigkeit z. B. träfe den einzelnen schlimm. Der Gesamtheit ginge es jedoch gut. Einrichtungen wie Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung seien schließlich auch heute noch nicht in allen durchaus wirtschaftlich starken Ländern der Welt selbstverständlich und er verweist an dieser Stelle erneut auf die USA, aber auch auf Großbritannien.

Selbst wenn von den Schülern, die ihm nun seit einer knappen Stunde gegenübersitzen, keiner zur nächsten Bundestagswahl wahlberechtigt sein wird, appelliert er an die andächtig lauschende Zuhörerschaft: „Der Wähler sollte bei seiner Entscheidung nur mit der einen Kopfhälfte über die Krise nachdenken und mit der anderen über die Zukunft.“ An dieser Stelle ist Koch wieder ganz der Parteipolitiker. Er erhofft sich nach der Wahl weniger und vor allem weniger schwere Kompromisse machen zu müssen. Dies tue weder Parteien noch der Wählerschaft gut. Eine klare Ansage! Eine große Koalition konfrontiere einen stets mit dem ihr ureigenen Problem: Läuft sie gut, mag der Wähler fürchten, die Demokratie ginge ihm verloren. Läuft die Koalition jedoch schlecht, kommt es wohlmöglich zum Stillstand und keinem ist geholfen. Christ- und Sozialdemokraten seien gute natürliche Antipoden, so Koch. Während die Christdemokraten davon ausgingen, der Einzelne träfe als kluges Wesen eigenständig gute Entscheidungen, ohne sich dabei etwas vorschreiben lassen zu müssen, hätten Sozialdemokraten ihren Ursprung im entrechteten Arbeitnehmertum. Daraus sei die Tradition entstanden, im Zweifel lieber für die Gruppe zu entscheiden, auch falls ein Einzelner dadurch einen Nachteil erfährt. Sicherlich spreche man zu Recht z. B. von dem guten Verhältnis Kochs zu Finanzminister Peer Steinbrück. Elementar sei es jedoch, die Grenzen, an denen politische Überzeugungen aufeinander prallen, zu kennen. Beispielsweise hinsichtlich der Verstaatlichung von Unternehmen. Da wüssten weder Steinbrück noch er, ob der Staat solch eine Aufgabe übernehmen könne. Während Steinbrück die Idee jedoch für möglich hielte, würde er sie für schlimm erachten.

Mittlerweile ist es 12:00 Uhr. Pünktlich sind alle Fragen der Klasse beantwortet. Den Ministerpräsidenten einmal in natura zu erleben, hat die Anwesenden sichtlich beeindruckt. Mit Spontaneität, Offenheit und ansprechender Sprache sowie auffallender Gestik konnte er Schülerinnen und Schüler für sich gewinnen, Kritikern unter ihnen zumindest einige Punkte zum Nachdenken mit auf den Weg geben. Dass er Schloss Hansenberg sehr gerne besuche und die Entwicklungen der Schule und ihrer Schüler stets mit Interesse verfolge, betont Ministerpräsident Koch noch einmal zum Schluss. Für ihn sei heute wichtig gewesen, die Schüler zu sensibilisieren: „Schlägt man eine Zeitung auf, so sind die Überschriften einfach und eindeutig – In Wirklichkeit jedoch steckt viel mehr dahinter!“