Mi, 25.11.2009

Lilo Günzler – Kindheit als „Halbjüdin“ im Nationalsozialismus, ein Gespräch mit einer Zeitzeugin am Hansenberg

In einem Klassenraum der Internatsschule Schloss Hansenberg haben sich etwa 25 Schülerinnen und Schüler zu einem historischen Vortrag versammelt. Im Mittelpunkt des Raumes sitzt Lilo Günzler. Am 11. Januar 1933 wurde sie als „Geltungsjude oder Mischling 1. Grades“ in Frankfurt am Main geboren.

Heute, etwa 77 Jahre später, sitzt sie, begleitet von Angela Wagner-Bona, bereits zum dritten Mal in dieser Schule. Zunächst ist Lilos Blick nach unten gerichtet, während Frau Wagner-Bona mit der Einleitung startet. Als Lilo zu reden beginnt, ist ihre Stimme allerdings fest und ruhig. Erwartungsvoll blickt sie in die Augen der Schüler um sie herum und beginnt zu erzählen.

Etwa drei Wochen bevor Hitler in Deutschland die Macht übernimmt, kommt Lilo Günzler zur Welt. Ihr Bruder Helmut ist eineinhalb Jahre älter als sie. Ihr Vater, „arischer“ Abstammung, lässt die gesamte Familie zum Schutz bald katholisch taufen.

1938 dann, Lilo ist beinahe sechs Jahre alt, spitzt sich die Situation zu: Mit der Reichspogromnacht und dem Brand der jüdischen Synagoge in Frankfurt werden erste deutliche Warnungen gesetzt. „Juden raus, Juda verrecke“ hört Lilo überall in den Straßen rufen; jüdische Geschäfte und heilige Schriftrollen werden geplündert und zerstört und das junge Mädchen versteht kein Wort von dem, was all die Menschen da sagen: Von „Juden“ hat sie noch nie etwas gehört.

Das Schweigen in einem Klassenraum mitten in den Weinbergen des Rheingaus etwa sieben Jahrzehnte später vertieft sich. Alle schauen gebannt auf die kleine Frau in der Mitte des Raumes, lauschen aufmerksam ihren furchtbaren Erzählungen und sind zutiefst geschockt von ihren Worten. Man versucht sich in die Situation der kleinen Fünfjährigen hinein zu versetzen, doch man kann sich diese kaum vorstellen.

Und Lilo erzählt weiter: Von der Auslieferung ihres Bruders in ein Kinderheim für Juden, von ihrer eigenen Einschulung und den damit verbundenen gegensätzlichen Gefühlen aus Vorfreude und Angst, weiter von den ständigen Kriegsberichterstattungen mit Beginn des zweiten Weltkriegs. Das kleine Mädchen sieht die Menschen um sich herum überall in Frankfurt, die Abtransporte vieler, vieler Juden in Arbeits- oder Vernichtungslager.

Als Lilo schließlich vom Transport ihres eigenen Bruders und ihrer Mutter in ein Gefangenenlager berichtet, stehen einigen Schülern in Johannisberg die Tränen in den Augen, man kann es nicht fassen. Auch die Schilderungen der Tage, die Lilo ganz alleine im Keller einer zerbombten Stadt verbringt, löst erneut Fassungslosigkeit aus. So rechnet wohl schließlich keiner mehr damit, dass sowohl Lilos Vater heil aus dem Kriegsdienst zurückkehrt, als auch ihr Bruder und ihre Mutter das Arbeitslager überleben. Ihre Familie ist durch die harten Zeiten enorm mitgenommen, ihr Bruder wiegt mit seinen 14 Jahren nur 24 kg. Seine Kindheit habe ihn krank gemacht, an Leib und Seele, sagt Lilo Günzler, „doch wir hatten unseren Lohn: wir haben’s alle überlebt“.

Die Stille, die dem Beenden ihrer Erzählungen folgt, wird nun deutlich. Man ist zutiefst beeindruckt von Lilos bescheidener Art, und mitgenommen von ihren ehrlichen Berichten. Viele weitere Fragen eröffnen sich den Zuhörern: Wie konnte man all die Tage, abgegrenzt vom Rest der Stadt und allen Abwechslungsmöglichkeiten, in einem Judenhaus in ärmlichsten Verhältnissen über die Runden kommen? Wie schaffte es eine Zwölfjährige, fünf Nächte lang in einem Keller zu überleben? Nicht zu fassen sind die Erlebnisse Lilos und ihrer Familie.

Und noch viel unglaublicher: Wie konnte jemand überhaupt nach so furchtbaren Erlebnissen sein Leben weiter führen? Wie wurde Lilo trotz alledem die fröhliche Person, als die sie heute Mittag den Klassenraum des Internats betrat?

Es sei schwer gewesen, sich das „normale“ Leben wieder aufzubauen, „aber ich hatte immer irgendwie Glück: immer hat mir jemand, wenn es mal besonders schlimm war, unter die Arme gegriffen“, antwortet Lilo ruhig.Doch erst 60 Jahre nachdem der Zweite Weltkrieg vorbei ist, schafft sie es, über ihre Vergangenheit zu reden. Vorher hat sie lange Zeit geschwiegen, sie hatte Angst, wollte ihre Familie beschützen, falls „es“ noch mal wieder käme.

Einige Schüler bleiben nun noch etwas länger, schauen sich die Fotos an, die Lilo in ihrer Kindheit zeigen. Als anschließend alle Schüler an diesem herbstlichen Nachmittag den Raum verlassen haben, tragen sie viele neue Eindrücke und Einblicke in eine Vergangenheit mit sich, die sie auch ein Stück weit selber betrifft. Sie sind Lilo Günzler und „dem Kind in ihr“, welches ihnen diese authentischen Schilderungen ermöglichte, sehr dankbar für ihre ehrlichen Berichte.

Maren Erven und Lara Kaiser