Mi, 29.11.2006

Konzert-Besuch im Opernhaus Frankfurt: „Werther“ von Jules Massenet

„… weil ein Mensch, den seine Leidenschaften hinreißen, als ein Trunkener, als ein Wahnsinniger angesehen wird.“ (Goethe)

Ein Novemberabend. Von frierend-winterlicher Stimmung ist an diesem 30. 11. 2006 zwar noch kaum etwas zu spüren, umso mehr hingegen vom Kulturhunger einer großen Schülergruppe nebst fachkundiger Begleitung durch Herrn Dr. Müller: Die Oper Frankfurt mit Werther, einem Drama von Jules Massenet, ist das klare Ziel. Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“(1774) zum groben Vorbild nehmend, ist die vieraktige Oper – in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln – von der Handlung wie folgt darzustellen:

Werther, durch Goethe als unglücklich liebender Dichter bekannt, darf Charlotte, die Tochter des Amtsmanns, zum Tanz begleiten und verliebt sich leidenschaftlich in jene junge Frau; auch sie kann sich dem Zauber der Sommernacht nicht entziehen. Währenddessen kehrt jedoch Albert, Charlottes Verlobter, von einer mehrmonatigen Reise zurück –zunächst eine passable Alternative zum pathetischen Dichter im kanariengelben Mantel. Charlotte als pflichtbewusstes gleichwie konformistisches Wesen fühlt sich an den Eid, Albert zu heiraten, gebunden, den sie ihrer sterbenden Mutter einst gab. Werther flieht verzweifelt, sein Gegenspieler heiratet inzwischen Charlotte … die Jahreszeit neigt sich dem Winter zu. Bei einer erneuten Begegnung bittet die junge Unentschlossene Werther, – ihrer Ruhe zuliebe – erst zu Weihnachten wiederzukommen, was Albert nicht gerade gleichgültig erscheint. Ist endlich Heiligabend da, so liest die Protagonistin Briefe von Werther und muss sich eingestehen, dass sie ihn trotz aller Bemühungen, ihn zu vergessen, ebenso liebt, wie er sie. Überraschend erscheint der Erwartete, dessen Forderung an Charlotte, Albert zu verlassen, nun zu endgültiger Zurückweisung führt. Die Sehnsucht nach der absoluten, d. h. unmöglichen Liebe lässt Werther letztlich keinen anderen Ausweg als den Suizid. Zu spät sodann begegnet Charlotte dem Sterbenden mit Gefühlen, die sie ihm zuvor nicht gezeigt hatte – der Selbstmord ist ergo zwar konsequent, jedoch nicht sinnvoll.

In den Tod gehen – aus unerfüllter Sehnsucht nach dem Absoluten, Wahn oder unmöglicher Liebe? Sehnsucht wonach? Wer ist er überhaupt, dieser Werther, der uns verstehen lässt, welche gefährlichen Konsequenzen schwärmender Träumerei innewohnen? An dieser Stelle wäre kritisch anzumerken, dass Goethes Werther als Abbild der Künstlerexistenz bei Massenet umgewandelt wird – in einen träumerisch in Liebe Ertrinkende, fernab jeglicher gesellschaftlichen Bewegung. Der Künstler vielleicht ist geblieben, jedoch als ein solcher, der sein Leben und die Liebe zu Charlotte zum Kunstwerk erhebt und letzteres mit dem Freitod vollendet.

Eigentlich müsste die Oper in „Charlotte“ umbenannt werden, denn gezeigt wird das Leben einer Frau, welches von der männerzentrierten Gesellschaft beeinflusst und eingeengt wird: Fürsorglich für die verwaisten Kinder, in eine konventionelle Ehe getrieben und angeschmachtet von einem Poeten, dessen ungestüme Liebe eine selbstsüchtige ist.

Die charakterlichen Gegensätze könnten also krasser nicht sein, was hervorragend im Bühnenbild verdeutlicht wird – die Inszenierung spielt daher auf hervorragende Weise mit Raum- und vor allem Farbkontrasten. Eine verschiebbare Trennwand teilt den Handlungsraum in Öffentlichkeit und Privatsphäre, in Realität und Traumwelt, in die konventionelle Charlotte und den träumerisch-apathischen Werther. Je nach Öffnung der beiden Teilräume kommt auch die Gefangenheit der Figuren zum Ausdruck, welche sich indessen aus der Psychologie der Figuren selbst erklären. Farblich gesehen dominiert komplementär-kühles Abendblau mit dem Wertherschen Kanariengelb, wobei die Stimmung nach dem zweiten Akt gänzlich ins kühle Blau bis Dezembergrau umschwenkt: Das „drama lyrique“ steigert sich zur Tragödie, überall liegen Werthers Briefe herum und zu Charlottes Tränen schmeichelt sanft das Saxofon. Es folgt ein ganzer Akt sehr langen Abschieds und Abrechnens – dennoch wird die Schlussdramatik insofern gebrochen, als der Protagonist in Charlottes Armen belkantesk bei Weihnachtsliedern des Kinderchores stirbt und fortwährend ariose Kraft behält.-

So erreicht uns Hansenberger durch diese durchaus faszinierende Inszenierung auch ein wenig winterlich-weihnachtliches Gefühl – Werther war einen Besuch wert.