So, 18.12.2005

„Hier sind meine Wurzeln – hier ist mein Zuhaus!“ – Geschichtsunterricht hautnah mit der Zeitzeugin der NS-Verfolgung Gertie Meyer-Jörgensen

„Wie gehen Jugendliche des Jahres 2005 in Deutschland auf eine reife 87-jährige Dame zu, die über die Schrecken ihrer Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus berichtet? Und wie reagiert die rüstige Augenzeugin der NS-Herrschaft auf die Schülerinnen und Schüler der Internatsschule Schloss Hansenberg? Und kann die NS-Geschichte heute so persönlich vermittelt werden?

Um es gleich direkt zu sagen: Beide Seiten – Referentin und Schüler – entwickelten spontan eine menschliche Zuneigung, die kaum glauben lässt, wovon die agile Mainzerin bzw. Wiesbadenerin jüdischen Glaubens berichtet. So geschehen am Montag dem 19. Dez. 2005 beim 4. Historischen Gespräch am Hansenberg mit den Geschichtslehrern U. Kruse Lage, M. Grosch und P. Rauh.

Gertie Meyer-Jörgensen erzählt zunächst ihre Lebensgeschichte. 1918 in Mainz in einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie als geborene Salomon aufgewachsen erlebt sie eine glückliche, unbeschwerte Kindheit. Gertie Salomon besucht das Gymnasium, spielt Tennis, feiert mit den Eltern die christlichen und jüdischen Feste gleichermaßen und hat einen christlichen Freund. „Ich war nicht sehr gut in der Schule, ich hatte andere Interessen.“

„Am 31. Jan. 1933 ging es los, ihr könnt euch vorstellen, 1933, ich war damals 15 Jahre, genauso alt wie ihr heute!“ Die Erregung der historischen Ereignisse klingt in ihren Worten wieder. „Innerhalb von 24 Stunden war alles anders. Der Schulleiter flog raus, der Physiklehrer, ein alter Nazi, wurde sein Nachfolger.“ Und dann erzählt die Geschichtszeugin aus ihrem Leben. Der Vater muss 1936 die Geschäfte seines Schuhladens am Mainzer Domplatz an eine „Arierin“ übergeben, 1936 muss Gertie das Gymnasium verlassen. Sie berichtet von den alltäglichen Hänseleien der „Mitschüler“. „Du alte Judensau, dass du immer noch nicht verreckt bist!“ hört sie 1938 auf der Strasse von ehemaligen Mitschülern.

1939/40 wird Gertie 16 Monate von der Gestapo in Stuttgart und Mainz inhaftiert. Nach ihrer Entlassung gelingt es der Mutter, kurzfristig ein Ausreisevisum über Berlin nach Moskau bis Shanghai zu erhalten. Die Mutter sieht ihr Kind Gertie nie mehr wieder und wird kurze Zeit darauf nach Treblinka deportiert. Der Vater vergiftet sich bereits 1939 mit Zyankali, er wollte Deutschland nie verlassen („Ich bin doch Deutscher! Ich habe im Krieg für Deutschland gekämpft!“). Die Großmutter vergiftet sich 1940 in der Wiesbadener Wohnung. („Sie hat eine sehr große, würdevolle Zeremonie daraus gemacht“)

Spannend erzählt Frau Meyer-Jörgensen, z. B. von ihrer Flucht aus Berlin. Berlin–Königsberg–Moskau–Sibirien–Shanghai–Macao–Hongkong. Sie arbeitet als Näherin, Kohlenhändlerin, Masseurin, Lehrerin. „Das kann ich euch sagen: Jede Arbeit ist gut! Und lernt! Das ist das Beste!“ Die Lebensweisheiten der Seniorin sind fast noch bedeutender und lehrreicher für die Jugendlichen als ihre historischen Erzählungen.

1945 ist Gertie Salomon im Ghetto Shanghais ohne Eltern und Verwandtschaft, heimat- und staatenlos. „Ohne Papiere bist du ein Nichts!“ Sie trifft den norwegischen Kapitän Jörgensen, er heiratet sie zum Schein „für einen Schein!“. Gertie Jörgensen zieht weiter, Südafrika, Marokko, London, bis sie 1959 wieder nach Deutschland kommt. „Viele meiner ehemaligen jüdischen Freunde haben das abgelehnt, sie wandten sich von mir ab. Aber ich bin doch von hier!“ In London lernt sie 1961 Paul Meyer kennen, sie heiraten und ziehen 1970 nach Wiesbaden. Die heute noch berufstätige Frau („Arbeit ist Medizin!“) arbeitet in Wiesbaden als Psychotherapeutin und steht als 87 Jährige für die Hessische Landeszentrale für politische Bildung und den Wiesbadener Verein Aktives Museum e. V. als Zeitzeugin der Geschichte des 3. Reiches zur Verfügung.

Viele tiefe und wahre Lebensweisheiten gibt Fr. Meyer-Jörgensen den jungen Hansenbergern mit auf den Weg. Sie wünscht sich besonders mehr Liebe und Rücksicht unter den Menschen, politische und soziale Gleichheit und eine tolerante Gesellschaft in der Bundesrepublik. Das ist ihr Aufruf an die Hansenberger Jugendlichen!