Mi, 12.11.2003

Gespräch mit Frau Meyer-Jörgensen, Zeitzeugin aus der NS-Zeit

Wie gehen Jugendliche des Jahres 2003 in Deutschland auf eine reife 85-jährige Dame zu, die über die Schrecken ihrer Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus berichtet? Und wie reagiert die rüstige Augenzeugin der NS-Herrschaft auf die Schülerinnen und Schüler der Internatsschule Schloss Hansenberg? Und kann die NS-Geschichte heute so persönlich vermittelt werden?

Gertie Meyer-Jörgensen erzählte zunächst ihre Lebensgeschichte. 1918 in Mainz in einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie als geborene Salomon aufgewachsen, erlebte sie eine glückliche, unbeschwerte Kindheit. Gertie Salomon besuchte das Gymnasium, spielte Tennis, feierte mit den Eltern die christlichen und jüdischen Feste gleichermaßen und hatte einen christlichen Freund. „Ich war nicht sehr gut in der Schule, ich hatte andere Interessen.“

„Am 31. Jan. 1933 ging es los, ihr könnt euch vorstellen, 1933, ich war damals 15 Jahre, genauso alt wie ihr heute!“ Die Erregung der historischen Ereignisse klang in ihren Worten wieder. „Innerhalb von 24 Stunden war alles anders. Der Schulleiter flog raus, der Physiklehrer, ein alter Nazi, wurde sein Nachfolger.“ Und dann erzählte die Geschichtszeugin aus ihrem Leben. Der Vater muss 1936 die Geschäfte seines Schuhladens am Mainzer Domplatz an eine „Arierin“ übergeben, 1936 muss Gertie das Gymnasium verlassen. Sie berichtet von den alltäglichen Hänseleien der „Mitschüler“. „Du alte Judensau, dass du immer noch nicht verreckt bist!“, hört sie 1938 auf der Straße von ehemaligen Mitschülern. Sie erzählt, wie sie sich mit ihrem damaligen „arischen“ Freund heimlich auf dem Turm der Mainzer Stephanskirche trifft.

1939/40 wurde Gertie 16 Monate von der Gestapo in Stuttgart und Mainz inhaftiert. Nach ihrer Entlassung gelang es der Mutter, kurzfristig ein Ausreisevisum über Berlin nach Moskau bis Shanghai zu erhalten. Die Mutter sah ihr Kind Gertie nie mehr wieder und wurde kurze Zeit darauf nach Treblinka deportiert. Der Vater hatte sich 1939 mit Zyankali vergiftet, er wollte Deutschland nie verlassen („Ich bin doch Deutscher! Ich habe im Krieg für Deutschland gekämpft!“), die Großmutter vergiftete sich 1940 in der Wiesbadener Wohnung. („Sie hat eine sehr große, würdevolle Zeremonie daraus gemacht.“).

1945 war Gertie Salomon im Ghetto Shanghais ohne Eltern und Verwandtschaft, heimat- und staatenlos. „Ohne Papiere bist du ein Nichts!“ Sie traf den norwegischen Kapitän Jörgensen, der sie zum Schein „für einen Schein!“ heiratete. Gertie Jörgensen zog weiter, Südafrika, Marokko, London, bis sie 1959 wieder nach Deutschland kam. „Viele meiner ehemaligen jüdischen Freunde haben das abgelehnt, sie wandten sich von mir ab. Aber ich bin doch von hier!“

In London lernte sie 1961 Paul Meyer kennen, sie heirateten und zogen 1970 nach Wiesbaden. Die heute noch berufstätige Frau („Arbeit ist Medizin!“) arbeitet in Wiesbaden als Psychotherapeutin und steht als 85-Jährige für die Hessische Landeszentrale für politische Bildung und den Wiesbadener Verein Aktives Museum e. V. als Zeitzeugin der Geschichte des „Dritten Reiches“ zur Verfügung.

Viele tiefe und wahre Lebensweisheiten gab Fr. Meyer-Jörgensen den jungen Hansenbergern mit auf den Weg. Sie wünschte sich besonders mehr Liebe und Rücksicht unter den Menschen, politische und soziale Gleichheit und eine tolerante Gesellschaft in der Bundesrepublik. Das ist ihr Aufruf an die Hansenberger Jugendlichen!