So, 01.03.2009

„Geschichtspornographie und Histotainment“ – Bestimmt das Fernsehen unser Geschichtsbild? Vortrag von Prof. Dr. Neitzel von der Uni Mainz

Unter dem Titel „Geschichtspornographie und Histotainment“ setzte sich am 2. März Prof. Dr. Sönke Neitzel von der Uni Mainz mit dem in Fachkreisen viel diskutierten Thema „Geschichtsfernsehen“ und dessen Wirkung auf den Konsumenten auseinander. Ergänzend dazu referierte Holger Stunz, Fachlehrer für Geschichte an der Gutenbergschule in Wiesbaden, über die Bedeutung desselben für den Schulunterricht.

Einleitend wurde den rund 35 im Schlegelraum anwesenden Schülern und Lehrern ein etwa 10-minütiger Filmausschnitt einer aktuellen ZDF-Produktion zur Annexion Österreichs 1938 vorgeführt. Im Anschluss erläuterte Herr Neitzel, Professor für Neue und Neueste Geschichte, eine Studie, die er im vergangenen Jahr auch unter Beteiligung einiger Hansenberger an dieser Dokumentation durchgeführt hatte. Ergebnis war zum Beispiel, dass das Anschauen solcher Fernsehsendungen vor allem auf Jugendliche, deren Geschichtsbild naturgemäß mangels eigener Erfahrungen im Gros eher ungefestigt sei, einen gravierenden Einfluss haben kann. Daraus leitet Neitzel auch die Verantwortung der „Histotainment“-Produzenten ab, sich trotz des Quotendrucks, der selbst im öffentlich rechtlichen Fernsehen immens sei, ihrer Macht über das Faktenwissen und die Geschichtsinterpretation des Publikums zu besinnen und dementsprechend realitäts- und tatsachenorientiert zu arbeiten.

Auffallend bei der Auswertung der Studie sei außerdem gewesen, dass in vielen Fällen im Gedächtnis des Betrachters einem geschichtlichen Ereignis ein bestimmtes Bild zugeordnet werde, also eine „Bildikonisierung“ stattfinde. So verbänden etwa die meisten Probanden mit der Einverleibung Österreichs durch das Deutsche Reich im Jahr 1938 das Bild des feierlichen Festakts anlässlich des Ereignisses, der unter dem enthusiastischen Jubel Zehntausender auf dem Wiener Heldenplatz stattfand. Das ist laut Prof. Dr. Neitzel insofern nahezu paradox, als andere „Bilder“, etwa von der brutalen Diskriminierung der österreichischen Juden, viel bedeutsamer und kennzeichnender für die Folgen der Annexion gewesen wären. Ursache für dieses beunruhigende Phänomen sei der Umstand, dass allzu oft an falscher Stelle „emotionalisiert“ werde oder wichtige Sachverhalte schlichtweg ausgelassen würden, um die Attraktivität der Dokumentation zu erhalten oder gar zu steigern.

Im zweiten Teil stellten die beiden Vortragenden die Frage nach der Nützlichkeit von „Geschichtsfernsehen“. Relativ sicher lasse sich dazu wohl sagen, dass „Histotainment“ vorrangig dazu diene, einen „Erstkontakt“ zur Materie herzustellen. Doch schon an diesem Punkt setzten die Kritiker an, die der Meinung sind, dass jede weitere Vertiefung des Themas nicht mehr von der meist oberflächlichen Darstellung im TV zu leisten sei, sondern anderer Medien – man könne etwa „zu Fachliteratur greifen“- bedürfe.

Dem fügte Stunz hinzu, dass sich aufgrund der vor allem bei Jugendlichen vorherrschenden Vorliebe für actionreiche Medien das Problem ergebe, ob oder welche Lehrfilme überhaupt noch zur Verführung im Geschichtsunterricht geeignet seien. Optimal seien eigentlich die allseits bekannten „FWU“-Produktionen, die komplexe Inhalte pädagogisch aufbereitet verständlich vermittelten, dies aber mit einer Eintönigkeit erfolge, die keinem heutigen Schüler mehr zuzumuten sei. Die modernen, ansprechenden Dokumentationen würden jedoch eine zu geringe Faktendichte aufweisen, als dass sie als Ersatz in Frage kämen, sodass die Schwierigkeit für den um Abwechslung bemühten Lehrer weiterhin bestehen bleibe.

Zum Abschluss fand unter Mitwirkung des Publikums eine kurze Diskussion zur Sinnhaftigkeit und Legitimität nachgestellter Szenen in modernen Geschichtsdokumentationen statt. Argumente für das „Reenactment“ waren zum einen die erzeugte Anschaulichkeit, die Sachverhalte, für die nur mangelhafte Quellen vorhanden sind, beleuchten könnten, zum anderen die gesteigerte Attraktivität für den Konsumenten, der mit aus Spielfilmen bekannten Techniken und Elementen unterhalten wird.

Im Gegensatz dazu steht eine Kontraposition, die derartig nachgestellten Szenen eben diesen Unterhaltungswert oft mangels schauspielerischer Qualität nicht zuerkennt, welche aus sich den begrenzten öffentlich rechtlichen Etats ergebe. Außerdem sei es in den meisten Fällen fraglich, ob „Reenactment“ überhaupt „erlaubt“ sei, weil es sich um pure Anmaßung handle, wenn man versuche zum Beispiel einen Dialog zwischen Hitler und Göbbels –man könnte an eine geheime Besprechung zur „Endlösung der Judenfrage“ denken- darzustellen und keinerlei Quellen über die tatsächlichen Begebenheiten vorhanden seien und der Inhalt von derart zentraler geschichtlicher Bedeutung sei, dass eine Fehlinterpretation von Seiten der Filmemacher fatale Auswirkungen auf das Geschichtsverständnis des Zuschauers haben könnte.

Insgesamt bleibt, denke ich, zu sagen, dass den Zuhörern an diesem Abend die Chancen, aber auch Probleme von „Geschichtspornographie und Histotainment“ in einem gelungenen Rahmen nahe gebracht wurden und in Zukunft im Hinterkopf präsent sein werden, wenn es um 20:15 Uhr beim ZDF mal wieder heißt: „Die Deutschen“.