So, 07.05.2006

Gedenken zum 61. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2006

Am Hansenberg lebt nicht nur „die Zukunft“ in Gestalt motivierter und leistungsfähiger junger Menschen, hier lebt man auch mit der Geschichte und jenen Ereignissen, die im Gedächtnis bleiben sollten. Gedenken soll hierbei kein „ritualisierter Bußgang“ sein, sondern ein Akt kultureller Vergewisserung im Hinblick auf Wert- und Verantwortungsfragen.

In diesem Sinn fährt jährlich der jeweilige Jahrgang 11 gen Worms (Gedenken an den 9.11.1938), in diesem Sinn hat der jetzige Jahrgang 13 das NONO-Schulprojekt 2005 durchgeführt, in diesem Sinn besuchen auch immer wieder Zeitzeugen den Hansenberg.

Eine Erinnerung an den 8. Mai 1945 fand erstmalig zur 60-Jahr-Feier 2005 für den damaligen Jahrgang 12 statt, die Veranstaltung wurde in diesem Jahr wiederholt. Geschichtslehrer Martin Grosch bereitete ein kleines Programm vor, eingerahmt von historischen Filmaufnahmen gab es im dicht mit dem Jahrgang 12 besetzten Raum eine kurze Einführung durch Schulleiter Wolfgang Herbst. Die nachfolgenden Ansprachen – wieder paritätisch auf Schüler / Lehrer verteilt – zeigten in hervorragender Ergänzung die mehrdeutigen Sicht- und Erlebnisweisen im Hinblick auf die große Zäsur des 8.5.1945.

Gedanken zum 8. Mai 1945
Beitrag Dr. Michael Knittel

Vorweg Zahlen, die vielleicht bekannt sind, an die von Zeit zu Zeit zu erinnern trotzdem wichtig sein kann:

Durch den 2. Weltkrieg, dessen Ende vor 61 Jahren wir heute gedenken, starben insgesamt schätzungsweise 66 Millionen Menschen. Auf russischer Seite waren 20,6 Millionen Opfer (und davon 7 Millionen Zivilisten) zu beklagen. In Polen waren es 4,52 Millionen (mit 4,2 Millionen zivilen Personen), in Frankreich 820 000 (davon 470 000 Zivilisten) sowie in Deutschland 5,25 Millionen (mit 500 000 Zivilisten).

„Erinnerungsschlacht“ und – weniger militant – „Gedächtnismarathon“ hat letztes Jahr der früher in Bochum, jetzt in Jena lehrende Historiker Norbert Frei die Medien-Kampagne genannt, mit der hierzulande auf geschichtliche Ereignisse, die 60 Jahre zurücklagen, Bezug genommen wurde. Das eine Sprachbild lässt an Sieger und Besiegte denken, das andere an eine Menschengruppe, die nach außergewöhnlicher Anstrengung an ein Ziel gelangen will. Beide Bilder regen zum Nachdenken darüber an, was eine Minderheit von Deutschen, die manchen als die geschichtsversessene gilt, unternimmt, wenn sie Bücher schreibt und liest, Filme dreht oder ansieht, debattiert, fragt, streitet und gar auf Straßen demonstriert.

Beginnen will ich mit einem Fall, der auch in Westdeutschland hätte vorkommen können: Während einer Diskussion in Strausberg bei Berlin, so konnte man lesen, fragte, als die Rede von der Nazi-Wehrmacht war, ein junger Mann aus einer Gruppe, die sich als „deutschnational“ verstand, was ein Deutscher auf einem Friedhof zu tun hätte, auf dem Soldaten der alliierten Armeen begraben sind, die in den Schlachten des Zweiten Weltkrieges umkamen. Einem 1945 etwa 17-jährigen, also jemand in Ihrem heutigen Alter, mag es nicht schwer fallen, darauf eine Antwort zu geben. Hätten diese Soldaten, damals kaum älter als er, den Nationalsozialismus nicht zerschlagen, wäre die Reihe auch an ihn gekommen. Er hätte dem Einberufungsbefehl zur Wehrmacht folgen müssen und wäre dann womöglich irgendwann auf irgendeinem Friedhof beerdigt worden. Das mag einleuchten, ist für uns Nachgeborene, die an keinem Krieg gerade so vorbeigeschrammt sind, aber kein Grund für Danksagung mehr. Was also kann der Mehrheit der Deutschen dieses Datum 8. Mai bedeuten? Welcher Platz gehört ihm in unserer Geschichte?

Mit dessen Bestimmung hat es nach wie vor mancherlei Schwierigkeit, das offenbart allein die anhaltende Kontroverse darüber, wie das Ereignis benannt werden soll. Kaum war es eingetreten, redeten die Zeitgenossen – treffend und mehrdeutig – vom „Zusammenbruch“. Zu Bruch gegangen waren nicht nur Häuser und Städte, sondern ebenso, wenn auch weniger sichtbar und noch weniger eingestanden, die im Nazi-Reich gewonnenen Anschauungen und Illusionen. Alltagssprachlich lieferte die Wendung „nach dem Zusammenbruch“ jahrelang eine jedermann geläufige Zeitdiagnose wie heute noch das bildärmere „nach der Wende“. Weiter kamen Kennzeichnungen in Gebrauch wie Kriegsende, Niederlage, Kapitulation, Untergang, Stunde Null – wie an verschiedenen Orten aufgestellte Scheinwerfer beleuchten sie ein und denselben historischen Platz, das eine sichtbar machend, anderes im Schatten lassend.

Doch wie steht es mit dem Begriff „Befreiung“, der aus der Zeit deutscher Zweistaatlichkeit zudem mit einer konträren Geschichte befrachtet ist? Im ostdeutschen Staat seit dessen Gründung offiziell gebräuchlich, vergingen im westdeutschen hingegen nahezu vier Jahrzehnte, bis Richard von Weizsäcker als Bundespräsident ihn am 8. Mai 1985 in seiner berühmten Rede vor dem Deutschen Bundestag verwandte und versuchte, den Bundesbürgern klar zu machen, dass sie allesamt – Zeitgenossen und Nachgeborene – aus jenem schon fernen Ereignis einen Gewinn gezogen hätten. Aber welchen, denkt man nicht allein an die aus Konzentrationslagern, aus der Gewalt der Machthaber und ihrer Büttel Befreiten?

Unstrittig ist, dass Hunderttausende deutscher Zivilisten vor 61 Jahren definitiv von ihren Ängsten vor Luftangriffen, vor Nächten in dumpfen Kellern, vor qualvollem Tod unter Trümmern befreit waren. Millionen Wehrmachtssoldaten mussten nicht länger fürchten, durch einen Befehl in Schlacht und Tod gehetzt zu werden. Das ist mitunter vergessen oder wird mit dem Verweis abgetan, die Masse der Deutschen habe sich nicht befreit gefühlt. Wie auch sollte sich eine schlesische Bäuerin – mit ihren Kindern ins Bayerische verschlagen – befreit fühlen? Wie jene, denen eine ungewisse und ungewiss lange Gefangenschaft bevorstand? Wie Millionen kleiner und nicht so kleiner Nazis, die erwarten mussten, dass die Rede auf ihre Rolle kommen werde, und das nicht ohne Folgen? Doch Todesfurcht gegen Zukunftsangst – das war bei allem kein so schlechter Tausch. Und die Gewissheit des Über- und Weiterlebens wuchs. – Doch damit hat das Für und Wider kein Bewenden.

Wer sich dem Begriff „Befreiung“ nicht nur von den teilweise illustrativen Lebensgeschichten der Zeitgenossen her nähert, ein Verfahren, dass vor allem in den Medien gern und ausgiebig praktiziert wird, sondern eine historische Perspektive gewinnen will, sollte tun, wovon ihn die gleichen Medien Tag für Tag weglenken. Er sollte sich Ursprung, Charakter und Ziele dieses Krieges vor Augen führen und könnte erkennen, dass die übergroße Mehrheit der Deutschen in jenem Mai von einer schandbaren Rolle befreit wurde, die keine Generation ihrer Vorfahren je gespielt hatte. Sie waren, freiwillig oder gezwungen, begeistert oder widerwillig an einem weithin verwirklichten Plan beteiligt, Europa unter das Hakenkreuz zu zwingen. Sie hatten nahezu den gesamten Kontinent mit Mordstätten überzogen. Durch sie waren Lebenspläne von Abermillionen zerstört worden. Und sie hatten mit wenigen Ausnahmen nichts getan, sich von dieser Rolle zu befreien, ja sie vielfach selbst bis in dieses Frühjahr 1945 hinein verlängert. Ihnen und den Nachfolgenden gab die Befreiung die Chance auf eine Zukunft, in der sie den Völkern keine Bedrohung mehr sein würden.

Dieses Verständnis von Befreiung ist in unserem Land bei weitem nicht durchgesetzt. Es bleibt ein Indiz dafür, ob und wie die Deutschen ihre Geschichte begriffen und aufgearbeitet haben. Nicht mehr zum Zwecke juristischer Anklagen von Personen, sondern zuallererst, um das Verdienst der Befreier nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Festgehalten werden soll daher eine Warnung, die in unseren Tagen ihr Verfallsdatum noch längst nicht erreicht hat. Sie zu verstehen, heißt danach zu forschen, wie sich die Deutschen in die Lage brachten, dass Europa von ihnen und sie selbst von ihrer Rolle befreit werden mussten.

Ansprache von Laura Kuhl (Jg. 12)

Den 8. Mai kann man als Tag des Sieges, als Tag der Befreiung, der Niederlage, der Hoffnung, der Kapitulation sehen; als die Stunde Null.

Aufgrund meiner Familiengeschichte weiß ich erst recht nicht, was ich von diesem Tag zu halten habe und kann darauf auch keine Antwort geben.

Mein Opa, August Kowaljow, kämpfte im Mai 1945 auf russischer Seite vor Berlin. Für ihn war der 9. Mai der „Tag des Sieges“. Ein Sieg über die Deutschen. 20 Jahre später heiratet er eine Deutsche und beginnt, sich als Deutscher zu fühlen und zu leben.

Der Lebensgefährte meiner Oma, Klaus Fritzsche, ein zur damaligen Zeit überzeugter Nationalsozialist, befand sich im Mai 1945 als Häftling in russischer Kriegsgefangenschaft. Während seiner 6 jährigen Gefangenschaft änderte sich seine Einstellung und nach der Wiedervereinigung begann er im Sinne der Völkerverständigung seine Geschichte zu erzählen. Auch Klaus fühlt sich bis heute den Menschen beider Länder sehr verbunden.

Im Folgenden möchte ich einen Ausschnitt aus seinem Buch „Das Ziel-Überleben“ vorlesen:„Als am 8. Mai 1945 der zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging, war ich fast zwei Jahre in Kriegesgefangenschaft in der Sowjetunion. Wir Gefangene waren über die Erfolge der Alliierten bestens unterrichtet. Verständlich, dass die potenziellen Sieger uns auf diesem Wege ihr Überlegenheit zur Kenntnis bringen wollten.Wir wussten, dass die Kriegshandlungen in Deutschland in diesen Tagen aufhören würden. Am Morgen des 9.5.45 kam ein sowjetischer Offizier in unsere Baracke und schrie: „Hitler kaput, skoro damoj!“, zu Deutsch „Hitler ist tot, bald geht’s nach Hause.“ Dieses „skoro damoj“ habe ich dann noch 4 Jahre lang gehört.Mir zumindest war klar, dass sich durch das Ende des Krieges an meiner Situation nichts ändern würde. Wir würden auch weiterhin unter üblen sanitären Verhältnissen leben, uns weiterhin am Rande des Verhungerns bewegen und dabei schwere Arbeit leisten müssen.Es würde nach wie vor niemanden auf dieser Welt geben, der versuchen würde, unser Leben leichter zu machen. Wir waren ein absolut rechtloser Haufen von Arbeitssklaven, verurteilt dazu, auf ungewisse Zeit Strafarbeit zu leisten.Es ist wohl verständlich, dass der 8. Mai an uns ohne tief greifende Wirkungen vorüber ging.

In den Folgejahren erlebte ich in Gefangenschaft und später in der DDR die Feiern anlässlich des „Sieges über den Hitlerfaschismus“ und mir war nie zum Feiern zu Mute. Wusste ich doch, dass die Stalinära millionenfachen Mord an Bürgern des eigenen Landes gebracht hatte, und es erzeugte mir Übelkeit, dass der Massenmörder Stalin nun mit einem Heiligenschein ausgestattet wurde, weil er einen anderen Massenmörder – Hitler – umgebracht hatte.“

In dieser Geschichte tritt der 8. Mai als Tag der Resignation und als Tag der Trauer und Wut auf.

Mein Opa, ein russischer Soldat, erlebte den 8. Mai wie folgt:

„Am 2. Mai 1945 fiel Berlin. Wir standen in den Wäldern südlich von Berlin in der Nähe von Halbe/ Teupitz. Hier erhielten wir einige Männer zugeteilt, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden sind. Bei einer Lichtung an einem Bauernhaus standen schon ungefähr tausend Gefangene, die von unseren Infanteristen bewacht wurden. Wir sahen auch unsere Autos, gaben die Gefangenen ab und waren froh, dass wir sie loswurden. Auf der Autobahn und auf den Straßen fuhren mit Leiterwagen, Pferdefuhrwerken, Kinderwagen und Schuppkarren, Flüchtlinge, meist Frauen, alte Leute, Kinder. Auch deutsche Armeefahrzeuge, Panzer, Artillerie und deutsches Militär, die aus dem Ring um Berlin heraus kamen, begegneten uns. Sie mussten sich alle unserem Militär ergeben; um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, wurden sie entwaffnet und gefangen genommen.An den Straßenrändern lagen unsere toten Soldaten und auch viel Deutsche darunter. Ein Bild des Grauens. Tragisch, wo der Krieg fast zu ende war, noch auf diese Weise um zu kommen; im letzten Moment. Plötzlich kamen einige Offiziere zu uns und verkündeten, dass heute, am 2. Mai Berlin von unseren Truppen eingenommen worden ist, dass Hitler sich erschossen oder vergiftet hat. Siegreich durften wir also nach Hause fahren.

Da sich vor Prag faschistische Einheiten nicht ergaben, gab Stalin den Befehl an Marschall Konjew, meinen Oberbefehlshaber, sofort in Richtung Süden zu marschieren. Am 7. Mai 45 fuhren wir durch Dresden. Wir sahen, was unsere Verbündeten, die angloamerikanische Luftwaffe angerichtet hatte; Trümmer über Trümmer. Am 8. Mai erfuhren wir, das Deutschland vollständig kapituliert hatte. Wir standen gerade vor Decin (Detschin) an der tschechischen Grenze. Es war sehr früh am Morgen. Niemand schlief mehr, man erwartete unsere Truppen. Menschen bewarfen uns mit Blumen und riefen: „Nasdat, vorwärts“! Aus Bauerhäusern kamen tschechische Menschen und gaben uns Brot und Wein.“

Mein Opa hat den 8. Mai als Tag des Sieges gesehen. Als er elf Jahre später noch mal an die Stelle des Geschehens zurückkehrt, sollte der Tag für ihn eine neue Bedeutung bekommen:„1956 wurde ich zum Dienst nach Lübben im Spreewald/ Brandenburg als Chef des dritten Nachrichten Batallions abkommandiert.Am 8. Mai 1956, am „Tag des Sieges“, saß ich mit einem Freund in dem Bahnhofsrestaurant, das sich direkt gegenüber der militärischen Einheit befand. Wir waren dort im Hinterzimmer, wo sich nur vier Tische befanden. An einem der Tische saßen zwei junge blonde Fräuleins und löffelten Nudelsuppe aus ihren Terrinen. Wir grüßten sie mit „Guten Tag“. Lächelnd erwiderten sie unseren Gruß. Sie sprachen gut russisch und wir machten uns bekannt. Ich stellte mich als August vor und erntete herzliches Gelächter. Nun stellten auch sie sich vor. Die eine hieß Inge, die andere Margot. Die Kapelle spielte „La Paloma“, wir tanzten miteinander, aßen Schnitzel mit Bratkartoffeln und tranken etwas dazu, es wurde ein schöner Abend; so begann unsere Freundschaft und Margot wurde später meine Frau.“

30 Jahre später lebt die Familie von meinem Opa genau in der Gegend, wo er am 8. Mai das Kriegsende erlebte und elf Jahre später die Liebe seines Lebens kennen lernt. Wir vermuten noch immer, dass die Einschüsse Granatensplitter am Haus meiner Großeltern von Opas Panzer stammen…

Diese Geschichte zeigt, dass der 8. Mai auch als Tag der Hoffnung und des Glücks gesehen werden kann.

Fest steht, dass es keine eindeutige Antwort gibt.

Jeder hat an diesem Tag seine eigenen Gefühle. Doch mein persönliches und unser gemeinsames Fazit könnte lauten: „Wir können aufatmen, es wird nicht mehr geschossen, der Krieg ist vorbei.“

Der 8. Mai, ein „Tag der Hoffnung und des Gedenkens“.