Mi, 01.12.2010

Die Zeitzeugin Lilo Günzler berichtet über ihre „Kindheit als Halbjüdin im Nationalsozialismus“

Der deutsche Nationalsozialismus. Ein dunkler Fleck der Deutschen Geschichte, der trotzdem und gerade aus diesem Grund im Geschichtsunterricht behandelt werden muss. Um den Schülerinnen und Schülern der Internatsschule Schloss Hansenberg neben den nackten Daten und Fakten einen emotionalen Eindruck der damaligen Geschehnisse zu vermitteln, besuchte die Zeitzeugin Frau Lilo Günzler am Nachmittag des 2. Dezembers den Hansenberg. Ermöglicht wurde ihr Kommen durch das Engagement des Geschichtslehrers Herrn Rauh sowie dem Aktiven Museum Wiesbaden.

Lilo Günzler wird im Januar 1933 geboren, kurz bevor Adolf Hitler an die Macht gelangt. Mit ihrer Familie - ihr Vater Deutscher, ihre Mutter und ihr Bruder Helmut sind Juden - lebt sie in Frankfurt.

Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft nach dem 30. Jan 1933 werden sie und ihre Familie - wie alle anderen Juden in Frankfurt - sofort benachteiligt und von der Gesellschaft abgeschottet.

Lilo Günzler erlebt mit, wie ihr Bruder, da er volljüdischer Abstammung ist, in ein Kinderheim kommt, sie sieht, wie sich Woche für Woche Juden auf großen Plätzen sammeln und „auf Transport“ gehen. Damals habe sie all dies nicht verstanden, berichtet sie. Und als sie einmal ein abreisendes jüdisches Mädchen fragte, wo der Transport denn hingehe, so habe sie als Antwort erhalten: „Dorthin, wo der Himmel weit offen ist“. In solchen Momenten der sehr ergreifenden Geschichte, die Lilo Günzler an diesem Nachmittag erzählt, können viele der Zuhörer im Raum ihre Erschütterung und Tränen nicht mehr zurückhalten.

Im Januar 1945, nachdem Lilos Bruder Helmut durch die Bemühungen des Vaters wieder zu Hause ist, erhalten ihre Mutter und ihr Bruder ein Schreiben, ebenfalls auf Transport gehen zu müssen. Lilo, die sog. „Halbjüdin“ oder „Jüdin 1. Grades“ ist, bleibt mit ihrem „arischen“ Vater und ihrer neu geborenen Schwester allein in Frankfurt zurück. Zu diesem Zeitpunkt wird Frankfurt am Main als „judenfrei“ erklärt und Lilos Vater, da er Deutscher ist, zum Volkssturm beordert.Die Tochter Lilo versteckt sich in einem Keller eines Hauses in der heutigen Einkaufsmeile „Zeil“. Über zwei Wochen harrt sie dort aus, bis am 28. März 1945 ein amerikanischer Soldat vor der Tür steht und ihr als kleines Friedenszeichen eine Tafel Schokolade in die Hand drückt. Bald darauf kehrt auch Lilo Günzlers Vater in die kleine Wohnung der Familie zurück und beide helfen sich gegenseitig, das Erlebte zu verarbeiten.

Lilo Günzlers Bericht über ihre Jugend während des Nationalsozialismus endet mit der Heimkehr ihrer Mutter und ihres Bruders aus dem Konzentrationslager Theresienstadt Anfang Mai 1945. Beide sind körperlich und seelisch am Ende, der 14 Jährige Bruder wiegt nur noch 40 Kilogramm. Aber sie leben. Die Familie ist wieder vereint.

Lilo Günzler endet mit den Worten „Eigentlich wollte ich nie über diese Zeit reden.“ 60 Jahre, so sagt sie, waren nötig, um die schrecklichen Erlebnisse ihrer Kindheit zu verarbeiten. Doch heute sei sie froh, über ihre Geschichte zu reden und anderen einen Eindruck in die manchmal schon sehr weit entfernt scheinende Zeit des Nationalsozialismus zu geben.

Schweigen herrscht im Raum. Alle Anwesenden brauchen noch einige Augenblicke, das Gehörte „sacken zu lassen“ und ein wenig Abstand zu gewinnen. Allmählich löst sich die Befangenheit und die Schülerinnen und Schüler nehmen das Angebot, Fragen an Lilo Günzler zu stellen, rege wahr. Sie interessieren sich für Lilo Günzlers Leben nach dem Holocaust und wie sie ihre Jugend verbrachte. Auch wird nach dem Grund gefragt, warum die Familie nach allem Leid Deutschland nicht verlassen habe oder wie ihr Bruder Helmut, der durch das Konzentrationslager sehr geschwächt worden ist, die Ereignisse bewältigt habe. Frau Günzler nimmt sich die Zeit, jede Frage ausführlich zu beantworten, und erzählt dabei offen auch aus ihrem heutigen Privatleben.

Die Schülerinnen und Schüler haben an diesem Nachmittag den Nationalsozialismus aus den persönlichen Eindrücken und prägenden Erfahrungen Lilo Günzlers von einer Perspektive betrachten können, wie sie kein Lehrbuch darzustellen vermag. Ein prägendes Erlebnis für alle Anwesenden.

Einen ganz herzlichen Dank an Frau Günzler für ihre Offenheit, ihre persönliche Geschichte zu erzählen, sowie allen Beteiligten, die ihren Besuch an der Internatsschule ermöglichten.