So, 15.01.2006

Der Engel auf der linken Schulter – Vortrag Islam und Islamismus

Am ersten Studientag des neuen Jahres – am 16. Januar – erwartete alle Interessierte ein Vortrag zu einem aktuellen Thema: Islam und Islamismus. Der Referent Dr. Kramm, ein evangelischer Theologe, der im Rahmen seines Studiums ein Jahr in Ägypten verbracht hat und sich heute für den interreligiösen Dialog einsetzt, war als Gastredner von Herrn Kauter eingeladen worden.

Der Islamkenner begann zunächst mit einer Einführung in die Grundlagen dieser großen monotheistischen Weltreligion. Schon bei der Vorstellung der „fünf Säulen des Islam“ (Gebet, Bekenntnis, Fasten, Almosen und Wallfahrt) kamen viele Fragen auf.

  • „Wie organisieren die Muslime denn das mit den Spenden überhaupt?“
  • „Wie kann Gott jemanden dafür bestrafen, dass er vom islamischen Glauben abfällt, wenn doch jedes Schicksal schon im Voraus festgelegt ist?“
  • „Warum darf ein Muslim einen Ungläubigen töten, einen Christen oder Juden aber nicht?“

Wir waren neugierig und hatten viele Fragen. Wie Dr. Kramm uns gleich am Anfang vorgewarnt hatte, erschien uns der Islam als faszinierend, aber in seinem letzten Grund als Außenstehende doch schwer zu erfassen.

Erstaunen weckte auch die islamische Vorstellung, dass jeder Muslim zwei Engel auf den Schultern sitzen hat. Der rechte schreibt alle guten Taten auf, der linke die schlechten, damit sie nach dem Tod gegeneinander aufgewogen werden können. Allerdings müssen die Engel sich beide einig sein, bevor sie etwas niederschreiben – denn auch Engel sind gegen Willkür nicht gefeit. Aber Engel sind wohl kaum der erste Gedanke, der vielen Westeuropäern kommt, wenn sie das Wort Islam hören. Hier nimmt leider die Tendenz zu, mit dem Islam in erster Linie den Islamismus zu assoziieren. Dabei ist dieser in erster Linie eine politische Bewegung, eine sehr moderne noch dazu. Im Ägypten der Sechziger Jahre kam unter Nasser, dem 2. Präsidenten, der arabische Nationalismus auf. Dessen Ziel war die Gründung eines vereinten, säkularen und sozialen Staates in der arabischen Welt. Allerdings provozierte diese Bewegung auch Gegenbewegungen – die bekannteste ist der Islamismus.

Warum ist die arabische Welt, einstmals Wiege der Zivilisation, heute ökonomisch, gesellschaftlich und kulturell in einem derart desolaten Zustand? Das war die Frage, die die ersten Islamisten umtrieb. Ihre Antwort lautet: Schuld ist die Entfernung von Allah. Eine Besserung der Situation kann aus islamistischer Sicht also nur durch Rückbesinnung auf den Islam erreicht werden. Die islamistische Utopie heißt Medina. Nach dem Koran gründete Mohamed dort die erste islamische Gemeinde, die sich bald zu militärischer und kultureller Blüte entwickelte. Eine solche Gesellschaft, von islamischen Autoritäten geführt, mit der Scharia als Gesetzesgrundlage und der Religion als gemeinsamen Nenner, wollen die Islamisten im 21. Jahrhundert wieder aufbauen.

Nach ersten Erfolgen wie z. B. einer islamischen Revolution im Iran 1979 misslang den Islamisten 1981 trotz der Ermordung des Präsidenten eine solche in Ägypten. Um die islamistische Utopie gegen den Widerstand der pro-westlichen Herrscher in der arabischen Welt durchzusetzen, wandte sich die Aggression gegen den Westen. Der islamistische Terrorismus war geboren. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 übte Amerika Rache – und stärkte so die antiwestlichen, antiamerikanischen und antisemitischen Minderheiten in den islamischen Ländern. Auf die Frage, wie die Geschichte des Islamismus nun weitergehen werde, wusste auch Herr Dr. Kramm keine Antwort. Es gibt Theorien, die im Auswuchs des Terrorismus das nahende Ende des Islamismus zu erkennen glauben. Aber ob das stimmt, werden wir erst in Zukunft erfahren.