30.04. - 05.05.2006

„Der Botschaft der Steine lauschen“; Fortführung des NONO-Projekts ZWEI

15 Schüler/innen vom Internat Schloss HansenbergUlrich Deutschle/Niko Lamprecht

Diese Reise vom 1. bis 6.Mai 2006 war eine Fortsetzung, eine Fortsetzung in logischer Folge der Arbeit am NONO-Projekt im Frühjahr 2005. Die beteiligten Schülerinnen und Schüler hatten schon damals die europäische Dimension des Projekts erfahren und betont, und Staatsminister Jochen Riebel hatte ihnen beim Abschlussabend versprochen, entsprechende Exkursionen nach Kräften zu fördern. Zwei Ziele schälten sich heraus, Brüssel (Bericht zu dieser Fahrt a. a. O.) und Marzabotto. Letztgenannter Ort ist für Deutsche nicht mehr ganz unbekannt, seitdem der damalige Bundespräsident Johannes Rau dort zum Gedenken erschien und in Wort und Geste der Opfer des SS-Terrors gedachte. Für Italiener ist dieser Ort – ähnlich wie andere Mordstätten aus den letzten Kriegsjahren 43–45 – sehr wichtig, auch wenn an ihm die Spaltung Italiens 1943–45 schmerzhaft erfahrbar wird. In den Bergen des Monte Sole starben im Herbst 1944 viele Menschen, weil linke Partisanen („Stella Rossa“) im regulären Kampf nicht gestellt werden konnten – und die SS mit Wehrmacht und italienischen Hilfskräften sich an diejenigen hielt, die auf einen „sauberen“ Krieg vertrauten: Frauen, Alte und Kinder.

Wenige Tage genügten, um die „Steine von Marzabotto“(Titel einer SWR-Radionsendung von Dorette Deutsch) zu Zeugen vielfachen Mordes zu machen. Die Ruinen blieben nach dem Krieg stehen, erst seit wenigen Jahren sorgt die neue „Scuola di Pace“ für eine professionellere Begleitung der Menschen (Schulklassen, Studenten, Veteranen etc.), die diese Stätte der Erinnerung besuchen wollen. Das Land Hessen als Partner der Region Emilia-Romagna unterstützt diese Arbeit inhaltlich und finanziell, Minister Riebel bewilligte unserer Schülergruppe von 15 Personen und zwei Lehrern dementsprechend im Frühjahr 2006 einen merklichen Förderbeitrag. Die Schüler hatten trotzdem genug zu zahlen, was hoch anzurechnen ist, da bei dieser Fahrt kein Vergnügungscharakter zu erwarten war.

Niko Lamprecht

Tagebuch der Reise:

Montag 1. Mai 2006

15 Schüler, 2 Lehrer, jede Menge Instrumente, Treffpunkt 12:15 h. Ca 12:30 h konnten wir dann vom Hansenberg Richtung Frankfurt Hahn aufbrechen, nachdem auch Eva ihre Trommeln beisammen hatte. Der erste Schritt Richtung Marzabotto war also getan! Am Flughafen angekommen mussten wir noch schnell Katharinas Übergepäck auf andere Koffer verteilen, aber ansonsten hielt uns nichts vom Einchecken ab. Zur Stärkung noch schnell eine riesige Portion Pommes o.ä., und ab durch die Sicherheitskontrolle, in den Flieger und zack – da landeten wir auch schon in Bologna Forli. Mit geringen Verlusten fanden wir unter den strengen Blicken der Carabinieri unseren Weg zum winzigen Bus – nicht ohne schon einmal unsere Instrumente und Stimmen getestet zu haben. In entspannter italienischer Manier tuckerten wir nun also über holprige Straßen Richtung Marzabotto. Dort angekommen, stellten wir fest, dass dieser Ort gar nicht unser Ziel war, sondern die einsamen Berge des Monte Sole. Ruhig und friedlich erfreut man sich in der Scuola di Pace der Idylle der Einsamkeit. Halt! Nicht ganz, es gibt da natürlich auch noch das „Poggiolo“, das Restaurant, welches uns mit hervorragenden Speisen in reichlicher Fülle (wir drohten ernsthaft zu platzen J) versorgte. Enden sollte dieser Tag dann mit einer „kleinen“ (stundenlangen…) Einführung Herrn Lamprechts über die Geschichte dieses Ortes, wobei er sein geografisches und zeichnerisches Können mit freundlicher Unterstützung von Herrn Deutschle unter Beweis stellte.Und so sagten wir einem spannenden Reisetag in unseren watteweichen Betten „Gute Nacht“, in der Hoffnung am nächsten Morgen fließend Wasser zu haben. Die Zisterne war nämlich noch nicht auf unseren Besuch eingestellt worden, die Füllung kam am nächsten Morgen.

Eva Möller

Dienstag 2.Mai 2006

Nach einem ersten Frühstück im „Poggiolo“ (mit deutscher Ausstattung, d. h. mit Müsli, Käse, Schinken etc.) begrüßten wir die Mitarbeiter der „Scuola di Pace“. Nachfolgend begann die mehrstündige Führung zu den Ruinen des Massakers. Schnell wurde erlebbar, wie wichtig diese abgelegene Bergregion für die „Gotenfront“ war. Das südlich gelegene Tal war von den Alliierten bedroht, die deutschen Stellungen dort konnten einen „Feind im Rücken“ (Partisanen) nicht gebrauchen. „Stella Rossa“ operierte aber in den Bergen des Monte Sole, die Nadelstiche der Partisanen störten die Front der Wehrmacht und ihrer faschistischen Verbündeten. Im September 1944 begann unter Führung von SS-Offizier Reder die Einkreisung des Monte Sole, von allen Seiten stiegen Truppen die Berge hinauf. „Stella Rossa“ hatte sich längst versteckt, als die Truppen die kleinen Höfe und Dörfer erreichten. Raeder hatte von General Kesselring freie Hand bekommen und räumte auf – die Zivilbevölkerung wurde gnadenlos zusammengetrieben und – oft nach bangen Stunden des Wartens – massakriert. Überlebende berichteten von Handgranatenwürfen in Keller oder Kirchenräume, von MG-Feuer in die Menge hinein. Ein überlebender Junge (Franco Lanzarini, den Hansenbergern vom Besuch im Februar 05 bekannt) wurde mehrfach an die Wand gestellt und wieder zurückgebracht, am Ende dieser Erlebnisse war sein Haar weiß geworden!Unsere Führerin zeigte uns die Ruinen, die mahnenden Reste der „Chiesa di Casaglia“ führten uns schweigend zum nahen Friedhof, in dem ein Teil des Massakers stattfand. Einschusslöcher in den Steinen und Kreuzen mahnten auch ohne Worte. Ein alter italienischer Führer, den wir dort trafen, sagte uns aber sofort sympathische Worte. „We have to build the new Europe, not to fight against the old Enemies“, übersetzte uns unsere Führerin Noemi. Als Zugabe erstiegen wir dann den Monte Sole (sehr anstrengend, aber mit tollem Panoramablick) mit dem Partisanendenkmal der „Stella Rossa“.Am Nachmittag wurde noch in den Gruppen (Musiker, Künstler) gearbeitet, wir probten in der Musik unter anderem „Bella ciao“ und einen Totentanz in der Fassung von Branduardi. Die Künstler widmeten sich Dokumentationen – der Zeichnung einer Ruinenwand, der Landschaft, sogar der Botanik des Monte Sole.Nach dem späten Abendessen wurde noch viel diskutiert und auch musiziert, Gemeinschaft auf dem Berg praktiziert.

Niko Lamprecht

Mittwoch 3.Mai.2006

Etwas nachdenklicher als gestern begannen wir den Tag in einem Gesprächskreis mit Noemy, indem wir die am Vortag festgehaltenen Eindrücke vorlasen und auf uns wirken ließen. Danach stand wieder eine lange Wanderung durch die wunderschönen Berge an und auch diesmal hielten wir in regelmäßigen Abständen an geschichtsträchtigen Orten inne. So stießen wir auf Ruinen von Wohnhäusern und Kirchen sowie Friedhöfe, auf denen einige Partisanen und Opfer schließlich ihren Tod gefunden hatten. Der große Widerspruch zwischen der unberührten Landschaft und den tragischen Schicksalen vieler Personen beeindruckte uns heute erneut. Nachdem der Ausflug eher andächtig begonnen hatte, fanden wir uns plötzlich in einer völlig anderen Situation wieder: Unerwartet stießen wir auf ein großes Bauernhaus im toskanischen Stil, mitten in den Bergen, das sich am Ende einer Sackgasse befand. Ohne lange zu zögern stapfte unsere Führerin Noemy gezielten Schrittes auf das Grundstück und kam nach wenigen Augenblicken strahlend zurück, allerdings in Begleitung von einer kleinen in einen blauen Anzug gehüllte Frau mit strahlend blauen Augen und silberfarben leuchtenden kurzen Haaren. Ebenso beeindruckend wie ihr fröhliches Auftreten den Fremden gegenüber war das gesamte Grundstück: Der gepflegte Campus entpuppte sich als ein Sammelsurium, in dem man einfach alles Vorstellbare finden konnte. Von Tassen über Steine und Reptilien zu echten Antiquitäten war jeglicher Gegenstand vorhanden und stolz präsentierte uns die temperamentvolle Frau mit den perfekt lackierten Fingernägeln (trotz täglicher Gartenarbeit!!) ihren Besitz, der teilweise der Dokumentation der Kunst- und Kitschgeschichte dienen könnte. Nachdem wir das kleine Paradies bewundert hatten, wanderten wir in Ruhe zurück zur Scuola di Pace und nach einer ausgiebigen Mittagspause widmeten wir uns erneut unseren Landschaftsdarstellungen und Musikinstrumenten. Der Abend verlief ruhiger als zuvor; nach dem Abendessen gingen wir schnell ins Bett, um für den anstehenden Ausflug nach Florenz fit zu sein.

Katharina Klemm

Donnerstag, 04. 05. 2006

Nach einem kurzen Frühstück fuhren wir heute bereits um 8:30 h mit Ziel Florenz zu Tal. Nach einer Odyssee mit einem offensichtlich ortsunkundigen Busfahrer, der uns auf einer Sandstraße neben der Autobahn zum Stillstand brachte, haben wir den Zug aber doch noch erreicht. Ab da ging alles glatt, vom Hauptbahnhof aus brachte uns Herr Deutschle zum Dom zu Florenz. Während wir auf den Einlass warteten, erläuterte uns Herr Deutschle (der zum Tour-Guide avancierte) die wunderschöne Fassade des Domes. Wir hörten allerdings nur halbherzig zu, achteten wir doch ängstlich auf die angekündigten Taschendiebe.Im Dom betrachteten wir die Innenkuppel sowie zwei an die Wand gebrachte Reiter bzw. Feldherren – Ausdruck eines neuen Perspektiv- und Selbstverständnisses der Renaissance. Anschließend bestiegen wir – gestählt vom Monte-Sole-Aufstieg – die 463 (!) Stufen der Domkuppel, um von dort aus den 12-Uhr-Schlag des Campanile sowie die Ausführungen über Geschlechtertürme, Paläste und Kirchen zu hören. Einigen Teilnehmern war oben rechtschaffen schwindelig…Wieder unten angekommen verteilten wir uns für Pizza, Einkauf und Eiskonsum (zu überteuerten Preisen à 8 Euro für zwei Kugeln). Um 15 h (fast pünktlich, äh, bis auf Gunnar…) versammelten wir uns wieder am Dom, wobei diesmal unsere Aufmerksamkeit dem Baptisterium galt. Anhand der Türen desselben ließ sich der Wandel des Weltbildes in der Kunst nachvollziehen, Ghibertis Paradiestür zeigt ein völlig neues Selbst- und Themenverständnis des Künstlers.Über die „Flaniermeile“ der Via die Calzainoli kamen wir auf den Platz „della Signoria“ mit dem Palazzo Vecchio und der Loggia die Lanzi. Davor standen beeindruckende Kunstwerke, die uns Herr Deutschle erläuterte. An den Uffizien vorbei kamen wir zum Arno, auf den Spuren der Medici sozusagen. Zuletzt besuchten wir noch Santa Trinita mit den Ghirlandaio-Fresken, wo wir (unter rhythmischem Einwurf von 1-Euro-Stücken für die Beleuchtung) Ausführungen zur Personen-, Raum- und Lichtgestaltung lauschten. Danach machten wir uns schmerzenden Fußes und mit Souvenirs beladen auf den Heimweg.Die Scuola di Pace bzw. das Restaurant begrüßte uns wieder mit einem üppigen Abendmahl, was wir nach den Reisestrapazen ausgiebig genossen.

Freitag, 05. 05. 2006

Ein Duft nach Sommersonne, nach Pizza-Funghi, Erdbeereis und Sonnencreme. Laut gestikulierende Studenten, die sich ihren Weg durch die Arkaden bahnen. Händler, die ihre Ware anpreisen.Und wir mitten drin.Nach einer mehrstündigen Anfahrt mit Bus und Bahn, der letzte Vorbereitungen für das am Abend geplante Abschlusskonzert vorausgegangen waren, erreichten wir Bologna in der frühen Mittagszeit. „La Rossa“ (= Die Rote), wie die am Fuß des Apennins liegende Großstadt aufgrund der vielen roten Ziegeldächer genannt wird, erstreckte sich vor uns mit schattigen Bogengängen, die dem italienisch-chaotischen Großstadt-Flair eine romantische Note verliehen.Auf einem typischen Markt begegnete uns das geschäftige Treiben von Stoffhändlern, Schmuck- und Souvenirverkäufern. Aufgrund des kaum zu überblickenden Angebots hielten wir uns eine Weile dort auf, um schließlich vom bunten Marktgetümmel in die ruhigeren Nebenstraßen zu flüchten. Diese führten uns in die für Bologna charakteristische Altstadt hinein, stark geprägt durch die im 11. Jahrhundert gegründete Universität und das damit verbundene Studentenleben. In Kleingruppen besichtigten wir die Innenhöfe der einzelnen Universitätsgebäude und gelangten im Anschluss daran zu den zwei schiefen Türmen, dem Wahrzeichen Bolognas. Der „Torre Garisenda“ und der „Torre degli Asinelli“ stammen noch aus dem Mittelalter, wobei letzterer Herrn Deutschles fachkundigen Worten zufolge erstaunliche 90 Meter erreicht. Damit stellte er über lange Zeit das höchste Gebäude Europas dar.Am Spätabend versammelten wir uns wieder am Bahnhof zur Abfahrt, nachdem wir zuvor noch Zeit zum selbstständigen Einkaufen in den großen Modestraßen Bolognas erhalten hatten, und kehrten gegen 18:00 Uhr zur „Scuola di Pace“ zurück. Von der anstrengenden Stadtbesichtigung gab es allerdings keine lange Erholung; die Abschlussveranstaltung sollte bereits eine Stunde später stattfinden!So verschoben wir das Nickerchen und fanden uns stattdessen im kleinen Nebengebäude der Scuola ein, das uns als Vorführraum diente. Wenngleich nicht alle eingeladenen Besucher anwesend waren – Vittorio Prodi, Bruder des designierten Ministerpräsidenten Italiens, war leider aufgrund eines dringenden Termins in Zusammenhang mit seinen EU-Aktivitäten verhindert, – hätte keine schönere Abschlussfeier zustande kommen können. Die Musiker boten unter Herrn Lamprechts erfahrener Hand eine Vielzahl von Musikstücken dar, wobei einige (darunter auch das in Original-Sprache vorgetragene „Bella ciao“) in direkter Verbindung mit den grausamen Kriegsereignissen Italiens speziell im Jahre 1943 standen. In einer kurzen Musikpause stellten die fünf Schülerinnen, die beim NONO-Projekt im Rahmen der Kunst-AG mitgewirkt hatten, gemeinsam mit Herrn Deutschle ihre während des Aufenthalts entstandenen Werke vor; Zeichnungen, Aquarelle und kunstvoll drapierte Blütencollagen, die den Zauber der toskanischen Landschaft – und den Kontrast zu den steinernen Zeugen des Massakers – einfangen sollten.Das Programm des Abends dauerte ungefähr eine Stunde lang und fand beim letzten Abendessen der Reise in überschaubarem Kreis seinen gelungenen Ausklang.

Eva Krockow

Samstag, 6.Mai 2006

Nach einem ausgedehnten Frühstück im Poggiolo-Restaurant – der Wirt servierte zum Abschied noch Kuchen und Cola-Lollies – versammelte sich die Gruppe zur Abschlussbesprechung im Gemeinschaftsraum. Einem ausführlichen Geschichtsüberblick zum Unterschied zwischen Faschismus und Nationalsozialismus (Italien lag im Unterricht bisher eben recht fern…) durch Signore Lamprecht folgte ein Rückblick zur Woche an diesem wunderschönen Ort. Nachher packte und putzte man – und sonnte sich auf der nahen Wiese, bis der nahende Bus den Anfang vom Ende unserer Fahrt signalisierte. Bis auf einen kleinen Konflikt mit der Flughafenpolizei (Gunnars Gitarreverstärker war plötzlich „gefährlich“ geworden) verlief die Heimreise problemlos, gegen 21 h erreichten wir den leider etwas kühleren Rheingau.

Timothy Williams