So, 17.05.2015

70 Jahre danach…Gedenktag zum 70. Jahrestag des Kriegsendes am 08. Mai 1945: Zusammenbruch oder Befreiung? Zeitzeugengespräch mit Richard Rudolph und Gerhard Veidt

Am Dienstag, dem 19. Mai 2015, nahmen zahlreiche Schüler an einem Zeitzeugengespräch als Studientagsangebot teil. Dieses fand statt mit Herrn Rudolph, einem damals begeisterten Hitlerjungen und mit Herrn Veidt, dessen Familie sich gegen die Nationalsozialisten stellte. Nach 70 Jahren beleuchteten sie die positiven und negativen Auswirkungen des Zusammenbruchs des nationalsozialistischen Systems auf ihr eigenes Leben unter der Leitfrage „Tag der Befreiung oder Tag des Zusammenbruchs?“.

Als erstes berichtete uns Richard Rudolph, der 1931 in eine Wiesbadener Handwerkerfamilie in ein eher sozialdemokratisches Umfeld geboren wurde. Durch die Schule, in der er größtenteils von nationalsozialistisch orientierten Lehrern unterrichtet wurde, wurde sein Weltbild entsprechend geprägt und er trat mit 11 Jahren in das „Jungvolk“ ein, um ein „Hitlerjunge“ zu werden. Er berichtet, dass er begeistert von dem Zusammenhalt dort gewesen sei und es für Kinder eine Möglichkeit war, zusammen zu singen, Sport zu treiben, zu diskutieren und ihr soziales Umfeld zu erweitern. Auch heute erinnert er sich noch an die Lieder, die sie dort gesungen haben - im Gegensatz zu denen, die er in der Kirche gelernt hat. Auf unsere Bitte hin fing er auch an zu singen. In der Hitlerjugend wurde aber nicht nur gesungen und gewandert, sondern ihm wurde nationalsozialistisches und antisemitisches Gedankengut als er noch ein Kind war, also sehr leicht beeinflussbar, indoktriniert. Heute sieht er zwar auch noch die für ihn positiven Seiten der Hitlerjugend, erkennt aber auch die immense Beeinflussung seiner Weltanschauung durch die Nationalsozialisten. Inzwischen redet Herr Rudolph sehr offen über seine kindliche Begeisterung für den Nationalsozialismus, aber auch darüber, dass er als Kind nicht die Unterdrückung, die Beeinflussung und totale Kontrolle und die Verfolgung erkennen konnte, sich inzwischen aber darüber bewusst ist. Herr Rudolph hat sehr offen mit uns über seine Gefühle und Erlebnisse gesprochen.

Im Oktober 1944 wurde Richard Rudolph zu Verwandten nahe Fritzlar evakuiert, erlebte dort das Ende des Kriege und den Einmarsch der Amerikaner. Ende Mai 1945 kehrte die Familie nach Wiesbaden zurück und er erfährt dort als Jugendlicher den „Bruch“ mit den bis dahin gültigen NS-Normen.

Inzwischen sieht er den 8.5.1945 aber nicht mehr als Tag des Zusammenbruch seines Lebens, seiner Wertvorstellungen und seines Weltbild, sondern auch als Beginn einer demokratischeren, freieren und toleranten Zukunft.

Daraufhin fing Gerhard Veidt, der Sohn eines parteifeindlichen Pfarrers aus einer antinationalsozialistischen Familie aus Frankfurt an zu erzählen. Er ist drei Jahre älter als Rudolph und litt schon als Kind an einer Gehbinderung und durfte aufgrund dessen nicht in die Hitlerjugend eintreten. Einer seiner Lehrer hat das nationalsozialistische Regime stark verurteilt und kritisiert, so dass er weder durch seine Familie, noch durch den Unterricht oder die Hitlerjugend nationalsozialistisch geprägt wurde. Er erzählte von der Angst um seinen Vater, der zweimal verhaftet wurde und auch um seine Mutter, die 1937 wegen eines Briefes in die Gestapo-Zentrale vorgeladen wurde und 1938 Besuchern den Hitlergruß verbot. Veidt hat die Verfolgung seiner jüdischen Mitbürger und die Verbrechen des Nationalsozialismus erkannt und verurteilt. Seine Familie hat verbotenerweise BBC gehört, um die Entwicklung im Kriegsgeschehen neutraler zu erfahren. Auch wenn für Veidt die Bombardierungen ebenso wie für Rudolph ein traumatisches Erlebnis waren, waren sie für ihn auch immer mit der Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende und einen Untergang des nationalsozialistischen Regimes verbunden. Die Angriffe der Alliierten sahen sie nicht als Terror, sondern als gerechtfertigte Reaktion und Folge der deutschen Kriegsführung.

Herr Veidt hat die Nationalsozialisten schon damals kritisch betrachtet, urteilt jedoch nicht über die Kinder, die das anders gesehen haben, weil sie durch Autoritätspersonen und die Hitlerjugend nationalsozialistisch und antisemitisch geprägt wurden sind, sondern spricht sehr offen mit Herrn Rudolph über die jeweiligen Erfahrungen. Für ihn war und ist das Kriegsende ausschließlich der Tag der Befreiung von den Nationalsozialisten durch die Alliierten.

Der Hansenberg bedankt sich für dieses interessante, bewegende und angeregte Gespräch mit zwei so offenen, ehrlichen und auch mutigen Referenten.