Lara Jo Pitzer, Q1 · 19.10. - 13.11.2015

Malaysia

Meine kleine Gastschwester turnt in ihrem Bärchenschlafanzug vor mir. Ich schaue nach rechts. Als erstes sitzt dort mein Gastbruder mit seinem Handy, daneben meine zehnjährige Gastschwester, dann meine Gastmutter, die sich die Füße von ihrem Mann massieren lässt. Meine neunzehnjährige Gastschwester schreibt Texte zu ihren Skizzen auf Behance und in der Küche höre ich die Haushaltshilfe rumwerkeln. Wir schauen koreanische Comedy-Shows, die auf malaiisch und englisch übersetzt im Fernsehen laufen. Es waren diese kleinen Momente, in denen man sich sicher war, dass man sich doch richtig entschieden hat, hierherzukommen.

Das Praktikum bei Linde gab mir die Möglichkeit zu sehen, wie die verschiedenen Generationen und Ethnien zusammenarbeiten. Ich bekam besonders einen Einblick in die Essenskultur, war aber auch fasziniert von dem ehrlichen Interesse der Kollegen aneinander. Insgesamt war die Atmosphäre bei Linde Malaysia wie in einem deutschen Unternehmen, aber das kann auch stark durch die Unternehmenskultur Lindes gekennzeichnet sein. Ich war in einem modernen Büro im dreizehnten Stockwerk untergebracht und beobachtete über Wochen hinweg die Transformation einer durch die Einflüsse des Smogs zutiefst grauen Stadt in eine Stadt, die mit ihren Farben fast wie ein Traum wirkt. Nach nur einem Monat dort wird die Erinnerung an Malaysia wahrscheinlich immer ein bunter Traum bleiben.

Nach ein paar Tagen bekam ich langsam innerhalb der Familie eine Idee, was Malaysia bedeutet, durfte mich aber nicht in das Leben stürzen. Irgendwie bekam ich vielleicht ein Gefühl, wie es ist erwachsen zu sein. Die Welt lag vor mir und ich war frei von allen Menschen, die mich sonst umgaben, aber ich musste arbeiten.

Da ich ein kleines, schwaches, weißes Mädchen war, durfte ich mich leider nur in Ausnahmefällen frei bewegen, von Gebieten, die ich nicht in- und auswendig kannte, ganz zu schweigen. Aber andere Kulturen, andere Sitten. Ich saß ja nicht alleine herum, sondern wurde überall hin mitgenommen.

Außerdem hatte ich den tollsten Gastvater, den man sich vorstellen kann. Unermüdlich bemüht, brachte er mich an so viele Orte, wie ich wollte und war sich für nichts zu schade. Ohne ihn hätte ich mich eingesperrt gefühlt, aber so konnte ich raus. Ich erlebte viel. Aber eine Gastfamilie, die mit vielen Kindern, Oma, Housemaid und deren zwei Kindern sich so wenig aus der Ruhe bringen lässt, ist ebenfalls eine großartige Erfahrung.

Es gibt tausende fantastische Dinge in Malaysia, aber wenn wir aus Deutschland kommen und dieses Land betreten, merkt man erst einmal, was Multikulti wirklich ist. Nur noch fünfzig Prozent der Bevölkerung sind Malaiien, also die Volksgruppe, die hier auch schon vor dem 19. Jahrhundert vertreten war. Englisch versteht eigentlich jeder und entgegen meiner Erwartungen versteht man es auch gut, zumindest in Kuala Lumpur.

Das Gefühl, das ich für immer mit Malaysia verbinden werde, ist jedoch dieses Gefühl des Inbegriffs des englischen Begriffs ‘Emerging Nation’, der es auch weitaus besser trifft als der Begriff des ‘Schwellenlands’. Egal wo ich hinkam, ich hatte das Gefühl, das man hier noch alles erreichen und aufbauen kann.

Des Weiteren gibt es den Begriff der Toleranz und den einer nationalen Identität. Beides steht irgendwie im Einklang in Malaysia, doch ich bin mir nicht sicher, ob alles so nahe ist, wie es scheint. Jeder meint, die andere Kultur zu kennen und ist auch irgendwie mit drin, aber jeder der Gruppen der Inder, Chinesen und Malaiien bleibt dann doch sehr unter sich. Chinesen sind hier meist Christen oder Buddhisten, dazu gibt es noch Muslime und Hindus. Eine nicht ins Raster passende Verschmelzung entsteht aber trotzdem, wohin man sieht. Chinesen werden Muslime, um Malaiien heiraten zu können, ein Abendmahlsbild hängt im Zimmer meiner Gasttante neben einem hinduistischen Elefantengott. Aber ein bisschen skeptisch bleibt man. Man sagt, Chinesen wären stark in der Wirtschaft und Malaiien in der Politik. Ohne zu werten: Ich habe genau einen chinesischen Politiker auf einem Wahlplakat gesehen und eine malaiische Teamchefin von fünfzehn Chefs bei Linde.

Zu den Unterschieden zwischen Christentum und Islam sagt meine Gastschwester Ana: ‘Wir haben doch beide Jesus, die Geschichten gehen nur ein bisschen anders aus.’ Ich sage ‘ja’, Die anderen sind für Malaysier nicht das Problem. Eher wenn dieses Andere in das Eigene kommt. Sie berichtet mir davon, wie sie belächelt wird für ihre westliche Kleidung und ihre Musik, ‘Verwestlichung’ nennen sie das an ihrer Uni.

Meine Gastfamilie war für mich da, immer, und es war für mich schon ein bisschen natürlich nach drei Wochen dann eben mit Leggings, T-Shirt und Strümpfen schwimmen zu gehen. Eigentlich hatte ich noch Glück, Ana trug ihren Ganzkörperschwimmanzug, nur ihre Hände und ihr Gesicht waren noch sichtbar. Die Strümpfe übrigens hatte ich an, weil ich dadurch nicht Teil der Invasion der Blutegel neben dem Wasserfall gleich hinter einem Dschungel wurde.

Zum Schluss war ich immer selbst verwundert, dass ich auf den Fotos so anders aussah als alle anderen, durch die englische Sprache und die Familie war ich wie sie. Aber auf den Fotos hatte ich dann doch noch kurze braune Haare und stach mit der faden Farbe zwischen all den bunt bestickten Kopftüchern hervor.